2. Kapitel

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Nathan saß im Dorfpub vor einem Bier und machte sich Gedanken über sein neuestes Buch zum Thema altirische Mythen, wobei es um die Winkelzüge des Schlachtplans eines legendären Stammführers ging. da hörte er zufällig die Bemerkung eines Landwirts an der Theke und war sofort ganz Ohr, was die Unterhaltung der beiden Männer betraf, die da an den Zapfhähnen saßen.

"Wie ich gehört habe, ist Will Thomsons Tochter zu seiner Beerdigung nach Hause gekommen. Sie war ein hübsches Mädchen und ist jetzt sicher eine richtige Dame geworden."

"Hat ihm wohl das Herz gebrochen, dass sie einfach so weg gegangen ist. Bestimmt hätte er sie lieber hier irgendwo verheiratet gesehen. Schließlich war sie sein einziges Kind."

"Gab es da nicht mal so ein Gerücht, dass sie was mit dem jungen Cunningham gehabt hat? Du weißt schon der, dem das Anwesen und praktisch die halbe Gesellschaft gehört."

"Ja, ja da ist irgendwas gewesen."

Nathan erstarrte und spürte, wie ihm der Schweiß ausbrach. Doch im nächsten Moment wurde ihm eiskalt, so dass er beinah zu zittern begann. Jule war wieder da und ihr Vater war tot? Wie gebannt sah er zu den Männern an der Bar, die jetzt beide einen großen Schluck Bier tranken. Offensichtlich hatten sie keine Ahnung, dass er in der kleinen Nische gleich neben dem Eingang saß. Er schnitt ein Gesicht und schüttelte den Kopf. Bestimmt wussten sie auch nicht, was sie mit ihrer Bemerkung bei ihm ausgelöst hatten.

Die Lust auf Bier war ihm vergangen. Er stand auf, schlug den Kragen seiner gefütterten Lederjacke hoch und schritt aus dem fast leeren Pub in den bitterkalten Winternachmittag hinaus. Dabei wirkte sein fein geschnittenes, schmales Gesicht nachdenklich und düster - als sei er gerade mit seinem ganz eigenen Schlachtplan beschäftigt.

Während Nathan durch den Schnee zu seinem Geländewagen stampfte, fragte er sich, wieso er weder von Will Thomsons Tod gehört hatte noch das Jule zur Beerdigung angereist war. Normalerweise machten Neuigkeiten im Dorf rasch die Runde. Gab es da etwa eine Art Verschwörung der Menschen, die ihm nahestanden?

Nach allem was passiert war, barg Jules Rückkehr eine menge Zündstoff, auch wenn er die lang gehegte Hoffnung, sie überhaupt wiederzusehen, längst begraben hatte - zur Freude seiner Familie. In deren Augen kam Jules aus ärmlichen Verhältnissen und passte nicht in ihre Welt der Reichen und Mächtigen. Deshalb waren seine Angehörigen natürlich wenig erfreut gewesen, als er die Affäre mit Jule begonnen hatte.

Doch Nathan ließ sich da weder von seiner Mutter oder seinen Onkeln noch von seinem Bruder oder dessen Frau hineinreden. Immerhin hatte er schon einmal dem familiären Druck nachgegeben und ein Mädchen aus der "richtigen" sozialen Schicht geheiratet. Am Schluss ließ sie sich dann von einem anderen schwängern. Doch das schlimmste war gewesen, dass sie ihm erst sechs Monate nach der Geburt des Kindes gesagt hatte, dass Erik nicht sein Sohn war und sie lieber mit ihrem Liebhaber leben wollte. Sie wäre nur wegen des Lebensstandards geblieben, den Nathan ihr bieten konnte.

Er fühlte sich unendlich gedemütigt und war ganz verzweifelt, da er das Baby längst lieb gewonnen hatte. Aber natürlich gab er Megans Wunsch nach und willigte in eine Scheidung ein. Ihre Ehe war ohnehin nur eine Farce gewesen. Doch das Kind vermisste er furchtbar und schwor sich, dass er sich niemals wieder so von jemanden täuschen lassen würde wie von seiner Exfrau.

Nach dieser schmerzlichen Lebensphase war es herrlich erfrischend, ein süßes und unkompliziertes Mädchen wie Jule kennenzulernen. Ja, sie war jung, erst achtzehn, aber verliebte sich trotzdem bis über beide Ohren in sie. Bei ihrer Schönheit und Unschuld hegte er nicht den leisesten Verdacht, dass sie ihn am Ende auch enttäuschen könnte, doch das tat sie. Nicht, indem sie ebenfalls mit einem anderen durchbrannte. Nein, sie verließ ihn einfach so, als er gerade dachte aus ihrer Beziehung könnte etwas für die Ewigkeit werden. Er war am Boden zerstört gewesen und hätte alles gegeben, damit sie zu ihm zurückkehrte. Aber er bekam nicht einmal die Chance, es ihr zu sagen.

Das ihr Vater ihn hasste, machte alles nur noch schlimmer. Will Thomson verhöhnte Nathan bei jeder Gelegenheit. Einmal sagte er sogar, Nathan sei nicht gut genug für seine Tochter und was ihm überhaupt einfalle seine gesellschaftliche Stellung zu missbrauchen, um Jule den Kopf zu verdrehen. Zweifellos hatte Will seine Tochter ermutigt, dass Dorf zu verlassen. Zumal er sich danach weigerte, ihren Aufenthaltsort preiszugeben während die Cunninghams erleichtert aufatmeten.

Nathan kam jetzt bei seinem Wagen an und war auf hundertachzig. Sagte man nicht, die Zeit heilt alle Wunden? Da konnte er nur lachen. Viereinhalb Jahre waren seitdem vergangen und ihm kam es vor, als hätte Jules ihn erst gestern verlassen.

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