"Sieh mal, wenn du dich überfordert fühlst", erklärte sie jetzt, "dann lass mich dir doch gleich helfen. Wir können heute anfangen, wenn du willst."
"Wieso nicht. Ich frage Margreth, ob sie eine Zeit lang auf Emma aufpassen kann. Aber da wäre noch etwas..." Jule, die schon begonnen hatte, den Frühstückstisch abzuräumen, hielt inne. "Ich habe über unsere Wohnsituation nachgedacht..." Seufzend verschränkte er die Arme vor der Brust. "Vielleicht wärst du mit Emma glücklicher im Apartment im Ostflügel, anstatt hier mit mir zusammenzuwohnen. Du hättest deine Privatsphäre und würdest trotzdem unter meinem Dach leben. Was denkst du?"
Damit hatte Jule schon gerechnet. Trotzdem war sie traurig darüber und auch ein wenig verletzt. Denn sie fragte sich ob Nathan sie dadurch auch wieder auf Distanz halten wollte. Doch dann hörte sie sich sagen: "Ich finde, dass ist eine gute Idee", obwohl sie davon ganz und gar nicht überzeugt war.
"Schön. Außerdem wollte ich dich noch fragen, ob du inzwischen den Führerschein hast", fuhr Nathan fort.
"Nein, immer noch nicht." Sie schürzte ihre Lippen und ergänzte wehmütig: "Ich wünschte, ich hätte ihn. In London kommt man mit den öffentlichen Verkehrmitteln schneller voran als mit dem Auto. Doch hier sieht das ganz anders aus."
"Dann werde ich dir so bald wie möglich Fahrstunden organisieren. Wenn du den Führerschein hast, bekommst du einen eigenen Wagen und kannst frei darüber verfügen. Wie hört sich das an?"
Es hörte sie an, als wäre er nicht nur großzügig, sondern auch umsichtig und es wäre wohl sehr unhöflich sich zu beschweren. Doch ihr ging einfach das neue Wohnarrangement nicht aus dem Kopf. Vielleicht störten sie ihn ja beim Schreiben. Trotzdem wurde Jule das Gefühl nicht los, dass er jede Gelegenheit ergriff, um Distanz zwischen ihnen zu schaffen.
Er war bereit, Emma alle Zeit der Welt zu widmen. Aber wenn es um sie, seine Exfreundin ging, war er immer noch nicht gewillt, seinen Schutzpanzer aufzugeben. Auch wenn Nathan ihr von dem Jungen erzählt hatte, den er für seinen Sohn gehalten hatte, blieb er ihr gegenüber nach wie vor unnahbar. Vielleicht war es tatsächlich besser, wenn sie erst einmal getrennte Wohnungen hatten.
Also erklärte Jule: " Sehr nett, dass du mir das mit dem Apartment und dem Wagen angeboten hast und ich denke, ich werde es nicht ablehnen. Vielen Dank." Und noch bevor Nathan etwas sagen konnte, machte sie sich auf die Suche nach ihrer Tochter.
Das freie Apartment im Ostflügel war sehr weitläufig. Mit seinen Parkettböden und den zahlreichen, lichtdurchfluteten hohen Räumen bot es genügend Platz für eine Großfamilie. Man hätte sogar zwei normalgroße Wohnungen daraus machen können. Abgesehen davon, war es komplett eingerichtet und ließ keine Wünsche offen. Doch Jule war an so viel Platz und Luxus nicht gewöhnt. Nachdem sie die Koffer ausgepackt hatte, hängte sie ihre wenigen Kleidungsstücke in die riesigen Wandschränke und stellte die paar Toilettenartikel im großen Badezimmer auf. Sie sehnte sich nach persönlichen Dingen von zu Hause, die sie in dem neuen Apartment verteilen konnte. Zwar besaß sie nicht viel, hätte aber gern wenigstens ihre Fotos, Bücher und die CD-Sammlung dagehabt.
Plötzlich ganz ratlos, ging Jule zum großen französischen Fenster ihres Schlafzimmer von dem man in den Innenhof blicken konnte, dem sich der Park anschloss. Nathan hatte Emma vorhin mit zu den Pferden genommen - eine ganz aufregende Sache für die Kleine. Jule war danach zunächst optimistisch ans Auspacken gegangen, doch jetzt hatte sie ein mulmiges Gefühl.
In London, so schwer das Leben dort auch gewesen sein mochte, hatte sie immer den Eindruck gehabt, dass sie es schon schaffen würde. Sie hatte sich stark gefühlt und daran geglaubt, dass sie mit den meisten Dingen klarkäme. Als alleinerziehende Mutter wurde man irgendwann automatisch so. Aber hier in Irland, in der Nähe dieses rätselhaften Mannes, der ihr Leben auf den Kopf gestellt hatte, seitdem sie ihm das erste Mal begegnet war, fühlte sie sich alles andere als stark und zuversichtlich. Vielleicht hätte sie das Angebot mit dem eigenen Apartment doch nicht annehmen sollen. Was, wenn Nathan sich damit nur darin bestätigt sah, dass sie so wenig wie möglich mit ihm zu tun habrn wollte, von dem Arrangement Emma betreffend einmal abgesehen?
Es war klar, dass er über den Verlust des kleinen Jungen noch nicht hinweg war und sie bei ihm mit der Neuigkeit, er habe eine Tochter, alte Wunden aufgerissen hatte. Sie konnte froh sein, dass Emma von Nathan nicht einfach abgelehnt worden war. Ganz im Gegenteil, Vater und Tochter schienen glücklich miteinander zu sein und wieder spürte Jule eine schwere Schuld auf sich lasten. Vielleicht verdiente sie selbst ja gar kein Glück. Was, wenn ihr überstürztes Handeln von damals sie der Möglichkeit beraubt hatte, jemals wieder etwas Derartiges zu finden?
Keine besonders hilfreiche Vorstellung, wenn man sich ohnehin schon schlecht fühlte. Jule wollte nicht in Selbstmitleid versinken und so kam ihr die Idee, ihre Tante anzurufen. Abgesehen davon, dass sie sich von ihr Trost erhoffte, wollte sie auch mal wieder mit jemanden reden, dem sie tatsächlich am Herzen lag. Außerdem musste sie Tante Lucy erklären, warum sie und Emma am Samstag nicht nach London zurückkamen. Danach würde Jule telefonisch ihren Job kündigen.
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Zurück nach Irland
RomanceRaue See, Sturm über den Klippen, Schreie der Möwen. Jule ist wieder in Irland! Hier ist ihr Zuhause, hier hat sie einst bei Nathan Cunningham die Liebe gefunden. Und plötzlich steht der irische Traummann vor ihr. Er will wissen, warum sie ihn da...