Es war spät am Abend und Nathan saß immer noch am Schreibtisch. Seit Emma und Jule bei ihm eingezogen waren, konnte er sich schlecht konzentrieren und am Ende des Monats war Abgabetermin für sein neuestes Buch.
Im Augenblick interessierten ihn die Pläne keltischer Stammesführer zur Verstärkung ihrer Festungen wenig. Das lag daran, dass er nicht mehr allein in dem riesigen Haus war. Jule und Emma wohnten zwar erst seit zwei Tagen bei ihm, doch bereits jetzt hatten sie sein gewohntes Leben völlig auf den Kopf gestellt. Ständig wurde er vom Lachen seiner Tochter abgelenkt oder von der ruhigen Stimmer ihrer Mutter, die auf ihre Fragen antwortete. Selbst die dicken Eichentüren von Oak Grove konnten diese Laute nicht komplett abhalten, zumal Nathan regelrecht darauf lauschte. Außerdem gesellte er sich über Tag hinweg immer mal wieder zu Emma.
Nach dem Abendessen nahm er sich dann richtig Zeit für sie, um mit ihr zu spielen oder ihr eine Gutenachtgeschichte vorzulesen. Dabei versuchte er, nicht zu oft daran zu denken, welche Hoffnungen auf eine glückliche Zukunft er sich damals auch bei Erik gemacht hatte. Auf jeden Fall freute er sich inzwischen auf jeden Moment, den er mit seiner Tochter verbringen konnte.
Die größte Prüfung stand ihm allerdings bevor, sobald Emma im Bett war. Auch wenn er sich bisher jedes Mal dafür entschieden hatte ins Arbeitszimmer zurückzukehren, um bis nach Mitternacht zu schreiben wusste er doch, dass Jule es sich im Ohrensessel am Feuer gemütlich gemacht hatte. Die Nase im Buch gesteckt, die Füße bloß und das feine blonde Haar offen. Wie gern wäre er zu ihr gegangen...
Unwillkürlich spannten sich jetzt seine Muskeln und er rutschte unruhig auf dem Stuhl hin und her. Aber er wagte nicht allein im selben Zimmer mit ihr zu sein. Warum eigentlich nicht? Blöde Frage! Weil er sich zu ihr hingezogen fühlte wie eh und je, obwohl die Stimmung zwischen ihnen sehr angespannt war.
Seufzend blickte er auf den Bildschirm ohne wirklich etwas zu sehen. Er wusste nur eins, er würde es nicht zulassen, dass man ihm Emma wieder wegnahm, wie damals Erik.
Da er sich ohnehin nicht mehr konzentrieren konnte, fuhr er den Computer herunter, stand gähnend auf und sah beim Recken auf die Uhr. Ganz schön spät! Hoffentlich ist Jule schon im Bett, versuchte er sich einzureden, um gleich darauf halblaut zu sagen. "Lügner!" Denn als er sich auf den Weg zum Salon machte, hoffte er inständig, Jule möge im Sessel sitzen und lesen...
"Gutes Buch? Muss ja wohl, wenn du so spät noch auf bist."
Jule riss sich von den spannenden keltischen Sagen los und sah Nathan entgeistert an, der da groß und breitschultrig in der Tür stand wie ein Held.
Ihr Vater hatte ihr oft vorgeworfen, das sie sich gern aus der Wirklichkeit in eine Märchenwelt flüchten würde und wahrscheinlich hatte er recht gehabt. Als Kind war sie im angrenzenden Wald immer auf die Suche nach Feen und Elfen gegangen und wenn sie allein war oder Angst hatte sprach sie mit unsichtbaren Freundinnen. Sie sah auch gern zum Himmel hinauf und stellte sich vor , dass die luftigen Wolken, die über ihr dahinsegelten, Schlösser, Vögel oder Tiere wären. Als Teenager sehnte sie sich dann nach einem Wunder, das sie weit über ihr ansonsten vorgezeichnetes Leben hinaustragen würde. Als sie Nathan traf, bekam sie auch deshalb furchtbaren Herzklopfen, weil sie dachte, nun wäre der entscheidende Moment gekommen.
Als Nathan jetzt auf sie zu ging und seine jadegrünen Augen das Flackern des Feuers widerspiegelten, gelang es ihr nicht das Verlangen im Blick schnell genug zu verbergen. Sie schloss das Buch und versuchte, ihn abzulenken.
"Es ist eins von deinen. Ich hoffe, es macht dir nichts aus, dass ich es aus dem Regal genommen habe."
"Aber nein. Welches ist es denn?"
Erschrocken beobachtete Jule, dass er direkt neben ihr in die Hocke ging und das Buch von ihrem Schoß nahm. Er sah nur kurz auf den Titel und blätterte dann durch die Seiten. Dabei konnte Jule weder den Blick von ihm und den bläulichen Lichtreflexen in seinem rabenschwarzen Haar wenden, noch den nur allzu bekannten Moschusduft seines Aftershaves ignorieren, der ihr in die Nase stieg.
"Welche Geschichte liest du denn gerade? Die über Deirdre und Naoise?" Als er das fragte wurde der Zug um seinen Mund ein wenig weicher. Aber nur jemand, der ihn gut kannte, bemerkte die winzige Veränderung.
"Dann magst du also Geschichten von Frauen, die ihren Zauber auf unschuldige, junge Männer wirken lassen und sie dazu bringen mit ihnen durchzubrennen, um sich heimlich zu vermählen?"
"Naoise war ein Krieger... ein Held und bestimmt nicht unschuldig."
"Möglich. Trotzdem gefallen sie dir, oder? Die alten Geschichten, meine ich."
"Sie sind zauberhaft und haben eine zweite Ebene. Auch heute noch können sie uns etwas über das Leben lehren. Ich habe sie schon immer gemocht, aber das weißt du ja." Unbewusst war sie leiser geworden und Nathan legte das Buch zur Seite.
Doch anstatt sich woanders hinzusetzen, wie Jule es erwartet hatte, blieb er wo er war. Die tanzenden Flammen des Feuers spiegelten sich in seinen Augen und ließen sie geheimnisvoll funkeln wie Sonnenreflexionen auf einem versteckten Bergsee.
Sofort wurde Jule von diesem Zauber gefangen genommen und ihr ganzer Körper spannte sich erwartungsvoll. Beinah in Zeitlupe ließ Nathan jetzt seine Hand in ihren Nacken gleiten und zog Jule zu sich herunter, um sie zu küssen.
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Zurück nach Irland
RomanceRaue See, Sturm über den Klippen, Schreie der Möwen. Jule ist wieder in Irland! Hier ist ihr Zuhause, hier hat sie einst bei Nathan Cunningham die Liebe gefunden. Und plötzlich steht der irische Traummann vor ihr. Er will wissen, warum sie ihn da...