4. Kapitel

953 47 3
                                    

"Wärst du überhaupt zu mir gekommen, wenn wir uns hier nicht zufällig getroffen hätten?", wollte er jetzt wissen.

"Doch... das hatte ich vor."

"Ich frage mich nur wann, Jule. Schließlich scheinst du immer wahnsinnig beschäftigt zu sein, dass dir in deiner Vergangenheit nicht einmal die Zeit blieb ein Telefonhörer in die Hand zu nehmen, um mich anzurufen. Kein einziges Lebenszeichen in viereinhalb Jahren!"

"Ich weiß, dass dir mein Verhalten herzlos vorkommen muss, aber.."

"Herzlos?", wiederholte er spöttisch. "Sweetheart, das trifft es nicht im mindesten!"

"Ich meine doch nur..." Jules Herz klopfte wie wild.

"Offensichtlich erwartest du eine Erklärung und die steht dir auch zu. Aber hier ist dafür wohl kaum der richtige Ort." Bestimmt sah man in ihren Augen, wie schuldig sie sich fühlte. "Glaub mir es tut mir leid, dass alles am Ende so gekommen ist."

"Tatsächlich?" Nathan ließ sie nicht vom Haken. "Und wieso ist es dazu gekommen Jule?" Doch er wartete ihre Antwort erst gar nicht ab, sondern fuhr fort.. "Weil du davon gelaufen bist. Und zwar ohne wenigstens so viel Anstand zu besitzen, es mir zu sagen!"

Zitternd senkte Jule den Blick. Was sollte sie darauf erwidern? Zweifellos glaubte Nathan ihr Vater habe sie dazu gebracht, die Beziehung zu ihm zu beenden. Will Thomson hatte nie einen Hehl daraus gemacht, dass er den jungen Cunningham und dessen Familie nicht leiden konnte. Aber Jule hatte Nathan nicht wegen ihres Vaters verlassen. Die Sache war viel komplizierter gewesen.

Zufällig hörte sie damals eine Unterhaltung zwischen Nathan und seiner Mutter Viktoria mit an, während der diese ihr ganz gemeine Beweggründe für die Beziehung zu ihrem Sohn unterstellte. "Sie schläft nur mit dir, weil sie sich davon Vorteile für sich und ihren furchtbaren Vater erhofft! Mach dir doch nichts vor Junge! Ein Mädchen wie sie schert sich einen Teufel um dich. Bei der nächsten Gelegenheit wird sie versuchen, dich in eine Ehe zu zwingen, indem sie dir erzählt sie sei schwanger."

Obwohl Nathan immer sehr leidenschaftlich gewesen war und Jule damit gezeigt hatte, dass er mit ihr zusammen sein wollte, waren niemals Liebesschwüre über seine Lippen gekommen. Was seine Gefühle betraf, war er ohnehin meist sehr schweigsam gewesen. Folglich wagte Jule nicht, sich ihm mit all ihren Zweifeln und Befürchtungen anzuvertrauen. Stattdessen flüchtete sie nach London.

Total in Anspruch genommen von ihrer neuen Verantwortung als Alleinerziehende, hatte sie schließlich keine Wahl, als dort zu bleiben und das beste daraus zu machen. Doch jeden Tag den sie in der Fremde und ohne Nathan verbrachte, ließ ihr das Herz schwerer werden. Aber wie konnte sie zu ihm zurückkehren, wenn ihre Neuigkeiten doch nur die Befürchtungen seiner Mutter bestätigt hätten?

Während die Jahre vergingen und Jule den Lebensunterhalt für sich und Emma selbst verdiente, wurde es für sie immer schwerer vorstellbar wieder nach Hause zu ziehen. Dabei war ihr klar, dass Nathan sie inzwischen hassen musste und es brach ihr das Herz wenn sie daran dachte, dass er ihr bei einem Wiedersehen wohl nur noch Verachtung entgegenbringen würde - so wie jetzt. Dabei wusste er nicht einmal von ihrem gemeinsamen Kind...

"Was hast du jetzt vor?" Jules tiefer Seufzer wurde in der winterlichen Luft sichtbar. Schließlich hob sie den Kopf, um Nathan wieder in die Augen zu sehen. Die Eiseskälte in seinem Blick war immer noch das.

"Was ich jetzt vorhabe?" Seine grünen Augen wurden schmal.

"Am liebsten würde ich wieder auf die anderen Straßenseite gehen und so tun, als hätte ich dich nicht gesehen. Warum bist du nicht einfach in London geblieben, sondern musstest herkommen und mich mit deinem Anblick quälen?"

So verbittert hatte sie ihn noch nie erlebt und es machte ihr Angst. Seine Worte waren wie Peitschenhiebe, die ihr die Knie weich werden ließen und ihr fast den Boden unter den Füßen wegzogen. Dabei füllten sich ihre Augen erneut mit Tränen. "Ich habe dir doch schon gesagt, dass mein Vater gestorben ist. Ich bin nur wegen seiner Beerdigung zurückgekehrt."

"Ich will mit dir reden und zwar so schnell wie möglich.", erklärte Nathan jetzt überraschend. "Du hast verdammt recht, dass du mir eine Erklärung schuldest und ohne die lasse ich dich kein zweites Mal davonlaufen!", stieß er daraufhin hervor, als bereite ihm jedes Wort körperliche Schmerzen.

"Bei der Steinformation oben auf dem 'Maidens Hill', dem Jungfrauenhügel.", sagte Jule schließlich kleinlaut. "Ich warte dort morgen Nachmittag um drei auf dich. Am Vormittag möchte ich gern die Habseligkeiten meines Vaters durchsehen und mir überlegen wohin ich sie gebe."

"Morgen um drei dann. Und noch eins Jule!" Wieder maß er sie mit diesem durchdringenden Blick, als wollte er sie davor warnen auch nur daran zu denken, die Verabredung nicht einzuhalten.

"Ja?" Ihr Herz klopfte wie wild.

"Enttäusch mich nicht noch einmal, sonst komme ich dich holen." Mit diesen Worten ließ er sie stehen. Es dauerte eine Weile, bis sie sich beruhigt hatte und wieder in der Lage war einen klaren Gedanken zu fassen. Doch zu diesem Zeitpunkt war sie längst so durchgefroren, dass sie unbedingt etwas Warmes zu trinken brauchte.

Als sie das kleine blau-gelbe Schild entdeckte, das vom Wind über Mrs. Wilsons Bäckerrei hin-und hergeweht wurde, lenkte sie ihre Schritte dorthin und freute sich auf einen schönen Milchkaffee, der ihr die Kälte und den Schrecken aus den Gliedern vertreiben würde.

Zurück nach IrlandWo Geschichten leben. Entdecke jetzt