„Wie geht's dir, Rehlein?", fragt Adam mich als er in unser Zimmer kommt. Ich starre aus dem Fenster. Die Mauer, die uns vom Wald trennt ist nicht weit entfernt. Wir sind schon mal aus einer Besetzerstadt ausgebrochen, würden wir es wieder schaffen?
„Das sollte ich dich fragen. Immerhin lagst du noch vor einer Woche auf der Krankenstation."
„Ja, aber du hast gestern das starke Serum bekommen. Zeigt es schon irgendwelche Wirkungen? Hast du eine Leistungssteigerung, wie sie hier immer so schön sagen? Oder hast du zufälliger Weise das Bedürfnis mir den Kopf abzureißen?"
Er lacht dabei, aber wenn ich an heute Vormittag denke, finde ich es nicht witzig.
„Hey, was ist los, Rehlein?" Ich höre, wie er seine Schuhe auszieht und dann zu mir ans Fenster geschlendert kommt.
„Was hast du?", fragt er nach.
„Das Serum zeigt seine Wirkung."
„Inwiefern?", seine Stimme wird ernster und auch ohne ihn anzusehen, weiß ich, dass er seine Stirn in Falten gelegt hat.
Ich starre weiter auf die Mauer.
„Ich war heute sehr wütend. Ich fühlte mich mächtig und unbesiegbar und ich wollte, dass Riva und dieser Gelehrte Angst vor mir haben. Ich wollte, dass sie mich fürchten."
Jetzt sehe ich ihn doch an und hoffe ihn seinen Augen keine Furcht vor mir zu sehen. Alles was ich sehe ist Mitgefühl, Verständnis und Liebe. Genau das, was ich nun brauche.
„Adam, ich glaube ich verwandle mich in ein Monster." Und schon bricht der Damm und ein Wasserfall läuft meine Wangen hinab.
Adam nimmt mich in dem Arm und streichelt mir über meine Haare.
„Du bist kein Monster und dass du es geschafft hast, dich zu beherrschen und nicht zu explodieren und ihnen die Köpfe abzureißen, spricht für dich."
„Ja, aber ich glaube ich war kurz davor. Doch dann hat Riva mich daran erinnert, was Nick zu mir gesagt hat, bevor ich die Spritze bekam. Nämlich, dass ich immer an die Konsequenzen denken muss."
„Ach Rehlein", seufzt Adam. „Das Serum zeigt erst seit ein paar Stunden eine Wirkung bei dir. Du musst erst lernen damit umzugehen. Dass du nun schon einmal deine Wut kontrollieren konntest, ist doch hervorragend. Und damit bist du schon mal schneller als Nick es war", versucht Adam mich zu trösten und es klappt sogar ein wenig.
„Ja, aber zu Nick's Verteidigung. Seinen ersten Wutausbruch hatte er, weil er dachte, sein bester Freund wäre tot. Wenn mir heute jemand gesagt hätte, dass du ... naja, da wäre ich auch Amok gelaufen und hätte die gesamte Stadt in Schutt und Asche gelegt."
„Was Anderes hätte ich auch gar nicht erwartet", scherzt Adam und ich lächle, damit er denkt es wäre wieder alles gut. Aber ein bisschen fürchte ich mich dennoch vor mir selbst.
Ich zucke zusammen, als es an der Tür klopft.
„Herein", antworten Adam und ich gemeinsam und Nick öffnet die Tür.
„Ich wollte mich nur erkundigen, wie dein Training heute war."
„Anstrengend", antwortet Adam und kommt mir damit zuvor.
Nick und ich sehen ihn überrascht an.
„Eigentlich meinte ich Aurora", stellt Nick klar.
„Was? Bin ich so uninteressant?"
„Nein ... so war das gar nicht gemeint, nur weil sie ja ...", stottert Nick und ich muss nun wirklich ein wenig lachen.
„Das war doch nur ein Scherz. Herrje, ihr Städter habt wirklich keinen Sinn für Humor." Adam lacht. Nick sieht ihn verwirrt an und ich antworte auf Nick's Frage.
„Anfangs war es wirklich hart, aber dann wurde es immer leichter. Das Serum hat offensichtlich gewirkt."
„Das ist doch toll", grinst Nick.
Ich überlege ihm zu sagen, dass ich das Bedürfnis hatte Riva und dem Gelehrten den Kopf abzureißen, doch er kommt mir zuvor.
„Ist sonst noch etwas passiert, was du mir gerne erzählen möchtest?"
Ich sehe Adam an. Ungefähr sowas hat er auch immer gesagt, denn ich früher als ich noch jünger war etwas kaputt gemacht habe. Und nun sitzt er auf seinem Bett und versucht mir mit einem Blick zu verdeutlichen, dass Nick es eh schon weiß und Leugnen jetzt auch nichts mehr bringt.
Nick sieht mich erwartungsvoll an.
„Hat Riva dir erzählt, wie gut ich mich heute beherrschen konnte?", versuche ich es schön zu reden.
„Sowas in der Art. Aber sie meinte eher, dass du völlig Grundlos kurz davor warst zu explodieren."
„Völlig Grundlos?! Ich hatte sehr wohl einen Grund!"
„Welchen?"
„Ähm ... Also der Gelehrte hat mich provoziert."
„Wie hat er dich denn provoziert?"
„Ungefähr so wie du jetzt grade. Indem er mein Gesagtes wiederholt und es total abwertend klingen lässt."
Nick kneift die Augen zusammen.
„Das ist alles? Das hat dich schon wütend werden lassen?"
„Es hat mich genervt! Und ja du hattest Recht ich bin wirklich viel sensibler."
„Ja, und ich habe auch damit Recht, dass du dir immer der Konsequenzen bewusst sein musst. Allerdings ... kannst du das wahrscheinlich erst, wenn du sie gesehen hast."
„Wenn ich was gesehen habe?"
„Die Konsequenzen."
Jetzt sehe ich ihn verwirrt an. Wie will er sie mir denn zeigen?
„Wir haben noch eine halbe Stunde bevor es Abendessen gibt", stellt Nick fest. „Also sollten wir uns beeilen, wenn wir nicht nur die Reste abbekommen wollen. Na komm, Aurora."
Ich bewege mich keinen Zentimeter.
„Wohin?"
„Ich werde dir die Konsequenzen zeigen."
„Ja, aber wo? Und wie?"
„Vertrau mir. Du musst keine Angst haben."
Das sagt er so einfach. Ich meine, ich vertraue ihm ja. Aber solange ich nicht weiß, was er mit mir vorhat, bin ich skeptisch.
Ich sehe Hilfe suchend zu Adam und werfe ihm einen Sag-doch-auch-mal-was-Blick zu. Welchen Nick noch vor Adam liest.
Tolle Bruder-Schwester-Verbindung.
„Adam kann auch mitkommen, falls dir das Hilft."
Und Adam stimmt sofort zu.
Diese Hilfe hatte ich von meinem Bruder zwar nicht erhofft, aber langsam glaube ich, dass ich keine große Wahl habe.
Ok, was auch immer gleich kommt, bringen wir es einfach hinter uns.
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Besetzeraugen (Band 3)
Science FictionSie sind zurück in der Stadt und der Krieg rückt näher. Doch während Nick, Adam und Aurora versuchen sich vorzubereiten, hat jeder von ihnen mit seinen ganz eigenen Herausforderungen zu kämpfen. Der letzte Teil der Augen-Reihe.