- 28 - [Adam]

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Ich dachte immer, ich könnte mich sehr gut verteidigen. Wenn man im Wald aufwächst, erlebt man sehr viel innerhalb von dreißig Jahren. Wenn man sich nicht richtig verteidigen kann, hat man eigentlich gar keine Überlebenschance.

Aber hier in der Stadt werde ich plötzlich eines Besseren belehrt, was meine Kampftechniken angeht. Und ich fange an daran zu zweifeln, wie ich nur all die Jahre überleben und meine Familie beschützen konnte.

Meine Familie.

Naja, ich konnte sie nicht alle beschützen.

Und es vergeht kein Tag an dem ich nicht an Tami denken muss.

Wir haben uns wirklich geliebt. Damals. Vor ...

Doch nachdem Jani ... es war einfach nichts mehr wie vorher. Wir haben uns gegenseitig die Schuld daran gegeben und angefangen uns zu hassen und zu verurteilen. Wäre ich dort geblieben, hätte ich keine Ruhe gefunden, weil ich immer nur daran gedacht hätte, dass ich hier bei Aurora sein und auf sie aufpassen müsste. Doch jetzt, wo ich hier bin, muss ich ständig daran denken, dass ich hätte dableiben und Tami, Linda und Lukas beschützen sollte, wenn der Krieg beginnt oder danach noch irgendwas von unserer Welt übrig sein sollte.

Mit diesem Serum haben sie mich zu einem ihrer Soldaten gemacht, doch ich fühle mich nicht wie ein Soldat.

Ich bin ein, wie sie sagen, Wilder. Und ich sollte im Wald sein und meine Wilden beschützen.

Mit dieser neu gewonnenen Stärke wäre dies auch viel leichter.

Doch wenn ich so rüber gucke und zu sehe wie mein kleines Rehlein ruhig schläft, will ich auch sie beschützen.

Seit ihrem ersten Atemzug wollte ich sie immer nur beschützen. Sie ist mir das wertvollste auf der Welt.

Und so liege ich nun eine weitere Nacht schlaflos in diesem Bett und frage mich, wen ich eher beschützen sollte und wessen Tod mich mehr zerstören würde.

„Du bist doch dieser Wilde, richtig?", fragt mich plötzlich eine Stimme hinter meinem Rücken.

Ich drehe mich zu ihm um und schenke ihm einen bösen Blick, bevor ich mich wieder abwende. Kann ich nicht mal in Ruhe anstehen, um mir mein Frühstück zu holen, ohne ständig danach gefragt oder auch nur dumm angestarrt zu werden? Ist das wirklich schon zu viel verlangt?

Ich hätte im Krankenbett liegenbleiben sollen.

„Ja, bin ich", antworte ich genervt und drehe mich dann wieder um. Ich habe keine Lust auf eine weitere Frage-Antwort-Runde.

Immer dieselben Fragen: Wie ist es dort draußen im Wald? Töten sich da wirklich alle gegenseitig und essen sich dann? Lauft ihr dort alle nackt rum? Und wo habt ihr unsere Sprache gelernt?

Die bescheuertsten Fragen wurden mir schon gestellt.

Was haben die Besetzer diesen Zuchtkindern nur all die Jahre für Lügen erzählt?

Aber die folgende Frage habe ich noch nie gehört: „Wusstest du eigentlich schon, dass Nick es mit deiner kleinen Schwester treibt?"

Ich drehe mich schlagartig wieder zu dem Kerl hinter mir um und unterdrücke das Bedürfnis ihm eine zu verpassen.

Er ist groß und dünn mit blondem Haar. An ihm ist kaum etwas dran. Es wäre eine Leichtigkeit, ihn K.O. zu schlagen.

„Was hast du da grade gesagt?" Ich habe ihn sehr gut verstanden, aber ich gebe ihm noch mal die Chance zu sagen, dass es nur ein schlechter Scherz war.

„Nun, deiner Reaktion zu folge, wusstest du es scheinbar nicht. Aber bist du wirklich so verwundert darüber?"

Wie ruhig er das alles sagt ... fast schon so, als wäre es ... Nein! Er lügt!

Meine kleine Schwester ist nicht so eine! Und die zwei kennen sich doch kaum!

„Du lügst", werfe ich ihm vor und versuche so ruhig zu bleiben wie es geht.

Ich habe wirklich keine Lust auf eine Schlägerei, aber wenn er es darauf anlegt, werde ich ihm mal zeigen, was ein Wilder so alles drauf hat.

Er lacht kurz auf und verzieht seinen Mund zu einem irren Grinsen.

„Typisch großer Bruder. Will seine kleine Schwester immer beschützen egal vor wem oder was. Und dass du so reagierst, weil sie was mit ihm haben könnte, zeigt ja nur, dass du was gegen ihn hast."

Versucht er mich zu provozieren?

Darauf werde ich mich nicht einlassen!

Die Schlange vor mir schrumpft, deshalb drehe ich mich wieder weg von ihm, rücke auf und nehme mir ein Tablett.

Doch dieser Arsch lässt einfach nicht locker.

„Du hast vollkommen Recht", flüstert er hinter mir.

Eigentlich will ich ihm gar nicht antworten, aber ... „Womit?"

„Damit, dass Nick nicht gut genug für deine kleine Schwester ist. Er kann immerhin zu einer wilden Bestie mutieren und alles innerhalb von Sekunden töten, was sich bewegt oder auch nur atmet. Und es ist doch nur eine Frage der Zeit, bis Nick wieder einmal ausrastet und jemanden den Kopf abreißt. Und das ist keineswegs eine Metapher. Wie wahrscheinlich ist es, dass es nicht die süße unschuldige Aurora sein wird, die ihm eines Tages zum Opfer fällt?"

Ich versuche ihm nicht zu zuhören. Vor lauter Anstrengung kralle ich meine Hände in das Tablett. Doch dann treibt er es auf die Spitze.

„Obwohl, vielleicht ist sie ja gar nicht mehr soo unschuldig, wie du vielleicht denkst."

Das Tablett in meiner Hand spaltet sich augenblicklich in zwei Hälften.

Und damit geht er eindeutig zu weit!

Ich lasse die zwei Tablettteile fallen und schlage nach ihm, mit meiner blanken Faust. Doch blitzschnell weicht er mir aus und verpasst mir stattdessen selber mit seinem Tablett einen Schlag direkt auf meine Nase.

Dieser Scheißkerl!

Meine Nase schmerzt wie die Hölle. Ich weiß, dass sie blutet, schon bevor ich es an meiner Hand sehe.

Am liebsten würde ich einen neuen Versuch wagen, aber womöglich würde er erneut ausweichen und mir den Schmerz antun, den er eigentlich verdient hätte.

Der Kerl sieht mich triumphierend an mit seinem breiten Grinsen. Ich gönne es ihm nicht und trotzdem hat er es geschafft, mich wütend zu machen. Auf ihn und auf Nick. Sogar ein wenig auf Aurora.

Er hat mir einen Floh ins Ohr gesetzt, den ich nicht mehr rausbekomme.

Nick ist wirklich gefährlich. Ist sie so dumm, sich in seine Nähe zu begeben? Das ist nicht die Aurora, die ich kenne.

Ich stürme an diesem fremden Arsch vorbei, direkt raus aus der Kantine.

Jemand schuldet mir ein paar Antworten.

Besetzeraugen (Band 3)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt