- 45 - [Nick]

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Meine Knochen sind noch dabei sich wieder zusammenzusetzen, während ich leicht benommen wahrnehme, dass das Tor der Mauer sich öffnet.

Durch den ganzen Qualm war mir nicht mal klar gewesen, dass wir direkt beim Tor gelandet sind. Vielleicht ist ja das Glück endlich mal auf unserer Seite.

Zwei Hände zerren an mir, heben mich wie einen nassen Sack auf und stützen mich auf dem Weg in die Stadt. Bei jedem Schritt verziehe ich das Gesicht vor Schmerzen. Meine Knochenbrüche und Wunden sind noch nicht alle komplett verheilt. Ich muss mir praktisch jeden einzelnen Knochen in meinem Körper gebrochen haben.

„Schließt das Tor!", höre ich eine weibliche Stimme rufen. Es dauert unverschämt lange, bis mein Gehirn sie zu ordnen kann, doch dann ist es mir auf einmal ganz klar.

„Riva!", seufze ich erleichtert, lasse Aurora los und falle ihr praktisch entgegen. Ich mag zwar noch etwas wackelig auf den Füßen sein, doch mein Gehirn ist schon wieder voll dabei.

Deshalb merke ich auch, dass ich der einzige bin, der hier irgendjemanden umarmt. Riva steht nur regungslos da und lässt es über sich ergehen. Ihr Körper ist stocksteif und sie hält die Luft an. Sie ist halt immer noch eine Zarte, wie sie so häufig draufbeharrt.

Doch plötzlich spüre ich eine Regung. Ihr rechter Arm hebt sich und legt sich sanft auf meinen Rücken. Ich weiß diese Gäste zu schätzen. Besetzer vermeiden körperliche Zuneigung. Dass sie mir so wie jetzt einen Arm auf den Rücken legt und noch keine abwertende Bemerkung zu meinem Verhalten gemacht hat, bedeutet mir grade unheimlich viel und macht mich irrsinnig stolz.

Als ich das Gefühl habe, wieder von allein stehen zu können, lasse ich sie endlich los. Dabei entspannt sie sich merkbar und atmet endlich wieder aus.

„Wieso ist die Stadt noch nicht zerstört?", fragt Aurora überrascht, während sie die noch immer sauberglänzenden Gebäude betrachtet. Nicht einen Kratzer haben sie abbekommen, während vor den Toren die Welt untergeht.

„Der Schutzschild, der von der Zentrale bis zur Mauer über die Stadt gespannt ist, hat das Feuer abgehalten. Hier drinnen sind wir in Sicherheit. Jedenfalls noch."

„Noch?", frage ich skeptisch. Doch bevor Riva mir antworten kann, stellt Aurora ihre nächste Frage in einem so ruhigen Ton, dass es uns durch Mark und Bein geht.

„Wieso habt ihr uns nicht reingelassen?"

„Nun, dies haben wir soeben getan", rechtfertigt Riva sich.

„Nein, ich meine nicht jetzt. Ich meine, als ich mit Adam vor der Mauer stand und euch angebettelt habe, das Tor zu öffnen." Tränen steigen ihr in die Augen und ihre Stimme erhebt sich. „Ich wollte doch nur, dass ihr das verfluchte Tor öffnet! Mein Bruder würde noch leben, wenn ihr es getan hättet! Warum habt ihr das verdammte Tor nicht geöffnet?!"

Schreiend rennt sie auf Riva zu und will sie angreifen, doch gerade noch rechtzeitig kann ich sie festhalten, während Riva mit weit aufgerissenen Augen einen großen Schritt nach hinten macht.

In meinen Armen bricht Aurora zusammen. Tränen fließen ihr abermals über ihr blasses Gesicht und immer wieder schluchzt sie: „Warum habt ihr das Tor nicht geöffnet? Warum habt ihr das verfluchte Tor nicht geöffnet?"

Es tut so weh, sie so zu sehen. Und genau wie sie, warte auch ich nun auf eine Antwort von Riva, während ich Aurora sanft in meinen Armen hin und herwiege und versuche sie zu beruhigen.

„Das Risiko, dass die Wilden in die Stadt vordringen und uns von innen schwächen, war zu groß."

„Und warum habt ihr uns nicht reingelassen, als ich es verlangt habe?", frage ich Riva. Ich weiß, dass das nicht grade hilfreich sein muss, um die Lage zu beruhigen. Doch diese Frage quält mich. Denn auch dann würde Adam nun noch leben.

„Aus demselben Grund. Die Wilden waren schon zu nah. Es hätten nicht alle Soldaten zurück in die Stadt geschafft. Und so waren wir der Meinung, hätten mehr von euch eine Überlebenschance. Immerhin wart ihr eindeutig in der Überzahl im Verhältnis zu den Wilden."

„Gut und wo sind dann jetzt all die Soldaten?"

Riva sieht mich stumm an, dann richtet sich ihr Blick zur Mauer. „Dort draußen. Abgesehen von denen, die hier oben auf der Mauer beim Schießkommando standen und die der Fliegerflotte."

Mein Blick wandert unwillkürlich zum Tor und das Bild all dieser brennenden Leichen schleicht sich wieder vor mein inneres Auge.

„Was genau ist da draußen passiert?", frage ich Riva ernst.

„Dieses Dröhnen sollte die Aufmerksamkeit aller Menschen und Starken dort draußen auf das Raumschiff richten und dies funktionierte. Als alle Augen auf diesem lagen, öffnete sich eine Luke in der Mitte des Schiffes, aus welchem ein strahlendes blaues Licht fiel."

„Das muss passiert sein, als wir auf dem Weg in den Wald waren. Das Dröhnen hatten wir noch mitbekommen, doch das Licht nicht mehr", erinnere ich mich

„Dann hattet ihr Glück. Dieses Licht hat jeden von uns in seinen Bann gezogen und hypnotisiert. Niemand konnte sich mehr bewegen oder auch nur etwas sagen. Nur wir hier in der Stadt konnten diesem Zwang widerstehen. Dann öffneten sich weitere Luken, aus denen viele kleine Raumschiffe geflogen kamen und mitten auf dem Schlachtfeld landeten."

„Mit Ultimativen drin?", fragte Aurora entsetzt.

„Ganz richtig. Wir konnten das alles nur beobachten und waren völlig machtlos. Als die Ultimativen nach einer Weile endlich fertig und wieder in ihrem Raumschiff verschwunden waren, schloss sich die Luke für das blaue Licht. Das Schlachtfeld sah aus wie vorher. Nur waren alle Starken, die eben noch dastanden, verschwunden. Sie hatten alle lebende Starken mit in ihr Raumschiff genommen. Dann haben sie die Menschen auf dem Schlachtfeld lebendig verbrannt. Nur der Schutzschild hat uns hier drin vor dem Feuer bewahrt. "

„Aber wieso?", frage ich Riva. „Wieso haben sie die Starken nicht einfach wie alle anderen dort draußen getötet? Warum haben sie sich die Mühe gemacht und die schweren Starken in ihre Raumschiffe geschleppt?"

„Weil sie uns Yeahandarks lebend haben wollen. Sie wollen uns wieder zu dem machen, weshalb wir vor all den Jahren von Lyethargus geflohen sind. Zu ihren Sklaven."

Besetzeraugen (Band 3)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt