Verrate mir mal bitte jemand, wie ich diese blöden Liegestütze machen soll, wenn so ein 200 Kilo schwerer Starker meinen Rücken mit seinem kleinen Finger runterdrückt?!
Nur weil ich es nicht geschafft habe, von allein und ohne seine ‚Unterstützung' ordentliche Liegestützen zu machen, muss er mich hier nicht gleich so bloßstellen!!! So eine Frechheit!
Ich kann andere Sachen gut! Ich kann Schießen und Nahkampf. Außerdem bin ich schnell.
Ich bin ein Mädchen und noch dazu ein Mensch. Verzeihung, dass ich mit ihm oder den ganzen anderen hier, die seit ihrer Kindheit täglich Liegestütze machen nicht mithalten kann.
Als ich aufgebe und mich auf den Boden sacken lasse, glaube ich ein überhebliches Schnauben von dem Starken zu hören.
Na warte. Wenn ich endlich die Spritze bekommen habe, dann bin ich genauso stark wie du und dann werde ich dir mal zeigen, was für ein ‚schwaches kleines Mädchen' ich dann noch bin.
Ich werfe dem Starken einen Todesblick zu, als er weitergeht und klopfe mir beim Aufstehen den Staub ab. Draußen Sport machen ist ja auch sowas von witzig, bei 30 Grad in der prallen Sonne. Wer hätte da keine Lust drauf?
Der Starke drangsaliert schon den nächsten. Na immerhin bin ich nicht die Einzige, die hier als Schwächling dargestellt wird. Die, die das Serum schon bekommen haben, triezt er nicht so. Aber die machen jetzt auch schon seit fünf Minuten Liegestütze und es ist noch immer kein Ende in Sicht. Die müssen ja schon bei 300 oder so sein.
„Mach dir nichts draus. Alle Starken sind so. Liegt vermutlich daran, dass sie heimlich Angst vor dem Krieg haben", lacht ein Junge hinter mir. Ich drehe mich überrascht zu ihm um. Nicht weil ich verwundert bin, dass er mich anspricht, sondern, weil er so jung ist.
„Ich bin Finn", stellt er sich vor.
„Ich bin Aurora. Wie alt bist du Finn?", frage ich ihn leise.
„Ich bin 14 Jahre alt", antwortet er stolz. Er hat noch nicht mal richtig den Stimmbruch hinter sich und soll schon in einen Krieg ziehen?
„Du bist aus dem Wald, richtig?", fragt er neugierig.
„Ja", antworte ich knapp.
„Du hast ja keine Ahnung, wie neugierig alle hier auf dich und deinen Bruder sind. Es hat sich natürlich wie ein Laubfeuer verbreitet, dass ihr Wilde seid, aber es ist irgendwie kaum zu glauben, weil wir alle immer dachten, dass ihr ... naja, irgendwie anders wärt."
„Anders? Wie meinst du das?"
„Naja, die Besetzer haben uns immer erzählt, dass ihr euch da draußen wie wilde Tiere bekämpfen würdet und euren primitivsten Bedürfnissen nachgehen würdet."
Ich sehe ihn verwirrt an. „Was? Ich ... Warum erzählen sie euch sowas?"
„Keine Ahnung. Aber es war ein Schock, als plötzlich überall bekannt wurde, dass ihr praktisch genauso seid wie wir hier."
Ich muss ihn wohl ziemlich erschüttert angucken, weil sein Gesichtsausdruck augenblicklich ernst wird.
„Es tut mir leid. Habe ich etwas Falsches gesagt? Ich wollte dich nicht verletzt. Es ist nur so, dass ich irgendwie ein bisschen neugierig bin, was euch und die Welt außerhalb der Mauern angeht. Also wie ist das so da draußen?"
Ich schlucke. Was soll ich ihm sagen?
„Es ist ein Kampf. Jeden Abend geht man schlafen und ist dankbar, dass man den Tag überlebt hat und jeden Morgen wacht man auf und ist froh, dass einen niemand in der Nacht überfallen hat. Selbst außerhalb der Jagdsaison, in der wir von den Starken einen Sommerlang gejagt werden, um dann entweder auf der Zuchtstation oder im Schlachthaus zu landen, gibt es noch genug Bedrohungen dort draußen. Genug verrückte und bösartige Einzelkämpfer, die nur darauf aus sind, dich zu töten und all dein Hab und Gut, was du noch besitzt und bei dir tragen kannst, an sich zu reißen. Und trotzdem ist es immer noch besser, als hier in dieser Stadt voller Besetzer."
Das ist die Wahrheit. Aber das sage ich ihm nicht.
„Es ist hart dort draußen zu überleben. Und doch vermisse ich es", antworte ich ihm.
Der kleine Finn sieht mich verständnisvoll an. „Du bist eben eine Wilde. Wenn du immer nur den Wald gewohnt bist, ist die Stadt für dich bestimmt die Hölle. Bei mir wäre es andersrum genauso."
Eine Wilde.
Einerseits klingt es so herabwertend. Aber andererseits klingt es auch stark und kämpferisch.
Ich bin gern eine Wilde.
Finn lächelt mich an und mir tut es im Herzen weh, wenn ich daran denke, dass so ein lieber kleiner Junge in den Krieg ziehen soll.
Ich habe keine Lust mehr auf dieses bescheuerte Training. Ich will zu meinem Bruder.
„Ich muss los, Finn", verabschiede ich mir rasch von ihm.
„Wo willst du hin? Das Training ist doch noch gar nicht vorbei", ruft er mir nach.
Na toll, damit kann ich ‚unauffällig verschwinden' schon mal abhaken.
Ich laufe einfach schneller, damit der Starke nicht noch auf die Idee kommt mir nach zu laufen.
Doch nach nur ein paar Schritten werde ich von einer Zarten mit grauem Haar aufgehalten. Irgendwie finde ich es beruhigend jetzt jemanden an zu treffen, denn ich schon kenne. Auch wenn Riva eine Zarte ist.
„Hallo Riva", seufze ich erleichtert.
„Ich habe dich gesucht Aurora."
Sie sagt das so ernst wie immer, aber dennoch durchfährt Panik meinen ganzen Körper.
„Ist irgendetwas mit Adam?!", frage ich voller Angst und schlage mir die Hände vor den Mund kaum, dass ich es ausgesprochen habe.
„Nein. Der Zustand deines Bruders hat sich nicht verändert. Es geht um dich. Sie wollen dir das Serum injizieren."
„Oh ok. Und wann?"
„Jetzt."
„Wie? Jetzt sofort?"
„Ja. Folge mir."
Ich bin überrascht. Ich hatte erwartet, dass ich 24 Stunden hätte, um mich psychisch darauf vorzubereiten oder so. Aber jetzt sofort? Das kommt so plötzlich. Auch wenn es mir unangenehm ist das zu zugeben, macht es mir doch etwas Angst.
Schließlich bedeutet das, dass ich in wenigen Stunden ich nicht mehr ich selbst, sondern eine aufgeputschte Version von mir bin. Und zwar für immer ... oder bis der Krieg mich umbringt. Wir werden sehen.
„Kann ich mit Nick sprechen?", halte ich Riva auf, als sie schon dabei ist zum Eingang zu gehen.
„Jetzt?", fragt sich mich überrascht, zeigt dabei jedoch wie üblich keine Reaktion, als sie mich ansieht.
„Ja oder ist es vielleicht sogar möglich, dass er dabei ist?"
„Er hat gerade Training, aber wenn es dir hilft, suche ich ihn und frage ihn, ob er Zeit hat."
„Danke", seufze ich fast schon ein bisschen erleichtert.
Am liebsten wäre es mir, wenn mein Bruder dabei wäre, aber da das momentan leider nicht möglich ist, hoffe ich das Nick die Zeit hat.
Ich will ja nicht, dass er neben mir sitzt und mein Händchen hält. Ich bin kein Kind mehr. Aber ich will wissen, wie es für ihn damals war, als er das Serum bekam.
Das ist so lächerlich. Noch vor wenigen Minuten freute ich mich darauf, endlich das Serum zu bekommen und dem Starken in seinen Arsch treten zu können und jetzt habe ich auf einmal Angst davor, was es aus mir machen wird.
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Besetzeraugen (Band 3)
Fiksi IlmiahSie sind zurück in der Stadt und der Krieg rückt näher. Doch während Nick, Adam und Aurora versuchen sich vorzubereiten, hat jeder von ihnen mit seinen ganz eigenen Herausforderungen zu kämpfen. Der letzte Teil der Augen-Reihe.