5. Kapitel

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Das bisschen Blut, das er in ihrem Körper belassen hatte, rauschte in ihren Ohren. Es war beruhigend...
Für einen kurzen Moment erinnerte sie sich an einen Urlaub am Meer zurück. Es war der einzige Urlaub ihres Lebens gewesen, doch der Klang von rauschenden Meereswellen war unvergessen geblieben. Der weiche, warme Sand unter und die wärmende Sonne auf ihrer Haut ließ sie keineswegs frieren. Es hatte sie einige Überwindung gekostet, einen Fuß nach dem anderen ins kühle Wasser zu setzen, da sie nicht zu den besten Schwimmern gehörte. Doch allzu weit musste sie sich ja nicht hinauswagen.
In diesem, vielleicht bedeutungslosen Moment wurde ihr bewusst, dass sie nicht zum Sterben bereit war – Nein! Noch nicht!
Das Lächeln Pennywise' erstarb, als sie sich in einer letzten verzweifelten Bewegung aufsetzte. Warmes Blut rann an ihrem Hals hinab, während ihre Sicht langsam verschwamm.
„Nein!" Selbst überrascht vom Nachdruck in ihrer Stimme, tat der Clown einen Schritt zurück.
Glaubte sie da einen Moment der Unsicherheit in seinen Augen wahrgenommen zu haben?
Ihre Hand wanderte zitternd zu der blutenden Stelle, fühlte Wärme, fühlte den Puls, der schwach, jedoch noch da war.
Ächzend erhob sie sich und stand mit weichen, zittrigen Knien vor ihm. Da er so nah war, musste sie den Kopf in den Nacken legen, um ihn ansehen zu können. Wie groß war er denn?
Ihr Blut an seinen Mundwinkeln begann bereits zu trocknen, während ein kurzer Moment der Schwäche, sie dazu zwang, sich an ihm festhalten zu müssen.
Ihre Hände ruhten auf seiner Brust, aus der keinerlei Herzschlag drang. Oder nahm sie diesen einfach nur nicht wahr?
„Ich... werde... nicht sterben!" hauchte sie ihm entgegen, beobachtete jede kleine Regung seines Gesichtes.
Seine Mundwinkel zuckten nach oben, imitierten wieder ein Lächeln, das nicht echt war, nie sein würde.
Sie schüttelte den Kopf, als sich ihre Sicht trübte, als ob sich dadurch etwas bessern würde.
Ihre Hände stemmten sich gegen seine Brust, doch er hielt sie umklammert!
Sein Arm schloss sich fester um ihren Körper, drohte damit, ihr das Rückgrat zu brechen, je mehr sie sich bewegte.
„Kleine Juna!" er senkte seinen Kopf zu ihr herab, sog ihren Duft ein und senkte seine Lippen zur Wunde an ihrem Hals.
Der warme Atem auf ihrer Haut ließ sie in seinen Armen erschauern. Alles war viel zu real, als dass es ein Traum sein könnte...
Hatte er etwa vor, sie wie ein Streichholz in der Mitte zu zerbrechen?
Seine andere Hand umfasste ihr Genick und stützte somit ihren Kopf.
„Zeig mir... was real... ist und... was nicht... real ist..." wisperte sie in sein Ohr, fühlte die Wärme, die von ihm ausging.
„Keine Angst?" Die Frage echote in ihrem Kopf, während er seinen wieder zu der Wunde an ihrem Hals senkte.
„Keine Angst!" erwiderte sie und schloss die Augen.
Mit diesen letzten wahren Worten sank Juna gänzlich in seinen Armen zusammen... ohne Schmerz... ohne Sorge...
Der Tod – war nicht das personifizierte Böse, sondern eine Erlösung...




Juna schreckte aus ihrem bildgewalten Traum auf, während ihr Atem stoßweise ihre brennende Lunge verließ.
Ihre Hände zitterten, als sie diese zu ihrem Hals führte, an welchem sie eine klaffende Wunde erwartete.
Jedoch war dort nur weiche Haut... keine auseinandergerissenen Sehnen, kein blutendes Fleisch – nichts.
Luft! Verdammt! Sie brauchte frische Luft!
Doch so schnell, wie sie vorhatte zum Fenster zu eilen, machte ihr, ihr Körper einen Strich durch die Rechnung. Dauernd über die eigenen Füße stolpernd, erreichte sie schließlich die große Fensterfront. Ihre rechte Hand umklammerte den Griff und öffnete es.
Wohltuende, eisig trockene Winterluft schlug ihr entgegen, erfüllte ihren Körper mit Leben.
Nach einer ganzen Weile schlang sie die Arme um ihren unterkühlten Leib und stellte fest, dass sie nichts weiter als ihre blanke Haut trug. Wo war sie eigentlich aufgewacht? Im Bett, oder auf der Couch?
Wie sie ihren Blick auf die spiegelnde Fensterscheibe richtete, glaubte sie im selben Augenblick einen Schatten ins angrenzende Badezimmer huschen zu sehen.
Sie schlug die Hände vors Gesicht und schüttelte den Kopf. Panik kroch in ihr empor. Was geschah hier?
Kaum zu einem klaren Gedanken fähig, schritt sie Richtung Badezimmer, während ihre Finger an der Wand nach dem Lichtschalter tasteten.
Was würde sie erwarten, sobald das Licht anging? Sie hielt den Atem an, als ihre Finger den Lichtschalter betätigten...
Nichts...
Der hämmernde Herzschlag in ihrer Brust ließ langsam nach.
„Dummes Mädchen!" schalte sie sich selbst und richtete ihren Blick zum Spiegel über dem Waschtisch.
Seltsam – ihre Haut, ihr gesamtes Äußeres wirkte nicht mehr ausgezehrt. Die Wangen rosig, die wohlgeformten Lippen hatten wieder ihr seichtes rot angenommen, die verknoteten und schon fast verfilzten Haare waren sauber durchkämmt.
Noch einmal, schon fast ungläubig, betrachtete sie ihren Hals, an dem keinerlei Spuren auf die Gewalttat hinwiesen, die ihr widerfahren war.
Kopfschüttelnd betrachtete sie nun die weiße Dose mit den Schlaftabletten, die seltsamerweise neben ihrem Zahnputzbecher stand.
„Nein!" ermahnte sie sich selbst, ergriff die Dose und ergoss den Inhalt in die Toilette, um diesen im Anschluss herunterzuspülen.
Erleichtert aufatmend richtete sie sich gerade auf und schritt mit neu gewonnenem Lebensmut wieder zurück ins Zimmer.
Dort öffnete sie ihren Koffer, in dem sich allerhand saubere Kleidung befand und zog sich an. Noch einmal sog sie die kühle Winterluft ein, die durch das offene Fenster hereinkam, ehe sie es schloss und gen Horizont blickte, an dem der rote Feuerball langsam emporkroch.
Es war das erste Mal seit langem, dass sie die Sonne aufgehen sah... Vielleicht hätte nun auch ihre ewigwährende Nacht ein Ende.
Sie hob etwas die Mundwinkel und lächelte. Alles würde wieder gut werden – zumindest fast. Es war Zeit, dass sie ihr Leben wieder auf die Reihe bekam!
Doch als allererstes würde sie einen kurzen Spaziergang durch den angrenzenden Wald unternehmen, um auch ihre restlichen, verworrenen Gedanken zu ordnen!
Schnell warf sie sich ihren schwarzen Parker mit dem Kunstfellkragen über und zog die wärmenden Stiefel an.
So leise wie möglich schlich sie durchs Hotel, um niemanden zu wecken, aber um in erster Linie niemandem zu begegnen, der sie ermahnte, ihre Anmietung endlich bezahlen zu müssen. Doch seltsamerweise schien das Hotel menschenleer – ja sogar selbst in der Küche war noch niemand zugange, obwohl es sicherlich bald Zeit wäre, um die ersten Gäste mit Frühstück zu verköstigen.
Schulterzuckend passierte sie die riesige Eingangshalle, sah sich noch einmal um, doch auch die Rezeption war unbesetzt. War es doch so früh, dass alles noch schlief? Die Uhr über dem Schlüsselbrett an der Anmeldung zeigte zwölf Uhr, allerdings hatte sie dies schon getan, als Juna angereist war.
Doch es war Winter, das hieß, wenn die Sonne aufging, müsste es doch mindestens schon um Acht sein.
Frischer Schnee war wohl über Nacht gefallen und reichte ihr bis zu den Knöcheln.
Wie eine Bilderbuchlandschaft erstreckte sich zu ihrer linken der angrenzende Wald mit malerisch schönem Ausblick, während sich rechterhand ein Parkplatz befand.
Sie war bereits ein ganzes Stück des Weges gegangen, bis sie leicht fröstelnd auf einer Waldlichtung stehenblieb.
Es war so trügerisch ruhig, doch was hatte sie erwartet? Vogelgezwitscher, Tiere, die ihren Weg kreuzten?
Als hätte etwas ihre Gedanken erahnt, begann unweit von ihr etwas im verschneiten Unterholz zu rascheln. Doch Juna tat nicht dergleichen, darauf zu reagieren.
Stattdessen tat sie einige Schritte rückwärts, woraufhin auch das Rascheln verklang.
Vielleicht noch immer Einbildung...
Doch als sie noch einen und noch einen Schritt zurücktat und plötzlich gegen Etwas stieß, entfuhr ihr ein kurzer Schrei.
Sie fuhr herum und blickte zuerst auf das silberne Kostüm, dann wanderte ihr Blick hinauf zu der Gestalt, die sie sich doch nur einbildete.
„Du b-bist n-nicht echt!" stotterte Juna zusammen, während ihre Lippen mehr vor Angst, denn vor Kälte zitterten.
„Tz-tz-tz." machte der Clown vor ihr und hatte in einer ermahnenden Geste den Zeigefinger gehoben und diesen nach links und rechts bewegt. „Kleine Juna!"
Schnell tat sie einen Schritt von ihm fort, doch er folgte ihr unablässig, auch wenn sie noch einen und noch einen ging.
Schließlich fiel sie rücklings in lockeren, frischen Schnee und sah mit schreckgeweiteten Augen zu ihm auf, doch er tat nichts, stand einfach nur da und sah zu ihr hinab.
„Keine Angst!" erklangen die Worte, die sie zum ihm gesprochen hatte, aus seinem Mund.
In einer spielerisch verbeugenden Geste reichte er ihr seine rechte Hand, die sie zögerlich ergriff.
Der Ruck, mit dem er sie nach oben zog, ließ sie vom Boden abheben, bevor sie schließlich auf ihren eigenen Füßen zum Stehen kam.
„Sag – kleine Juna!" begann er fordern und trat so nah an sie heran, dass kein Blatt Papier mehr zwischen sie gepasst hätte. „Willst du fliegen?"
Seine Stimme war beinah nicht mehr menschlich gewesen, als sie kurz blinzelte, da sie den Sinn seiner Frage nicht verstanden hatte.
„W-was?" hauchte sie verwirrt, während sie der süße Geruch von Zuckerwatte einhüllte.
In seinen Augen spiegelte sich etwas, er zeigte ihr Bilder, wie schon einmal. Sie sah in der Luft schwebende Kinder... Wie war das möglich?
Das obskure Bild erinnerte sie an ein Mobile aus ihrer Kindheit, doch dieses hier war so unbeschreiblich traurig. Die Kleider der Kinder waren beschmutzt, zerrissen, oder fehlten gar.
Sie beendete den Blickkontakt, als sie begriff, dass jene Kinder tot zu sein schienen.
„Wir alle können fliegen!" echote eine düstere, nicht menschliche Stimme in ihrem Kopf, während sie den Blick zu ihm aufrichtete.
„Ich fragte dich, wer du bist..." hauchte Juna, während die Kälte vom Boden in ihren Körper kroch. „Du antwortetest mir, du seist Pennywise..."
Er neigte den Kopf ein wenig zur Seite und entblößte plötzlich ein Maul voller unzähliger, scharfer Zähne, was sie zurückschrecken ließ.
„Verrate mir bitte, was du bist..."
Den Blick nun auf seine Augen gerichtet, das grässliche Maul ignorierend, ging sie den Schritt auf ihn zu, den sie zuvor fortgetan hatte.
„Keine Angst!" hauchte sie ihm entgegen, ignorierte die Gefahr und berührte seine Wange.
Doch dies ließ ihn in einer seltsam verdrehten Geste zurückweichen. Seine Gestalt verblasste plötzlich mit jedem Atemzug den sie tat. Ihre Hände begannen zu zittern.
Das alles konnte doch nicht wahr sein, nicht real...
Sie betrachtete die Hand, mit der sie ihn berührt hatte. Etwas weiße und rote Farbe befand sich daran.
Doch nach einem erneuten Zwinkern, war auch diese verschwunden.
„Ich drehe durch..." murmelte Juna und richtete ihren Blick in die Ferne, den Weg zurück, den sie gegangen war.
Einzig und allein ihre Fußspuren waren zu sehen.
Sie hatte zwar schon immer eine rege Fantasie besessen, doch so weit wie jetzt, hatte diese noch nie gereicht. Clowns sollten doch lustig sein – sie hätte jemanden gebraucht, der sie aufmunterte, stattdessen war ihr dieses... Ding... dieses ES erschienen.
In wirren Gedanken versunken, machte sie sich daran, die Wegstrecke zurückzugehen. Auch wenn wärmende Sonnenstrahlen durch die Kronen der Nadelbäume fielen, fror sie.
Durchgefroren erreichte sie das Hotel, vor dem reges Treiben herrschte. Gäste reisten ab, Neue an.
Pagen schleppten schwere Koffer umher, diskutierten untereinander, doch blieben den Gästen gegenüber freundlich, auch wenn dies nur gespielt war. Keiner nahm Notiz von ihr, fast so, als wäre sie unsichtbar für Jedermann. Ihr war es ganz lieb so. Keine unangenehmen Fragen, keine Blicke, die sie verfolgten.
Zurück im zweiten Stock schlug sie hastig die Tür ihres Zimmers hinter sich zu, als sie von weitem Stimmen gehört hatte.
Sie ließ sich mit dem Rücken an der Tür hinabgleiten, winkelte die Beine an und legte den Kopf auf den Knien ab.


Eine ganze Weile war vergangen, als eine Melodie an ihr Ohr drang. Schnell begriff Juna, dass diese, jener ähnelte, die sie ganz zu Anfang in ihren Träumen gehört hatte.
Jedoch war der Sing-Sang ein anderer. 



Sieh diese Tür, direkt vor dir.

Bietet sie Schutz? 

Dir oder mir?

Nun klopfe an, hör auf den Klang.

Was gut erschien, scheint oft nicht lang.



Juna hob ruckartig den Kopf, starrte an die Tür, die plötzlich mitten im Raum erschienen war. Sie war hässlich schwarz, ohne Klinke, nicht gerade einladend.
Ächzend hatte sich Juna aufgerichtet und war zögernd um das freistehende Türblatt herumgegangen. Ihre Finger berührten das raue Holz, fühlten tiefe Kerben.
Sie konnte die Tür nicht öffnen – kein drücken oder ziehen zeigte Erfolg.
Der Sing-Sang erklang erneut.



Sieh diese Tür, direkt vor dir.

Bietet sie Schutz? 

Dir oder mir?

Nun klopfe an, hör auf den Klang.

Was gut erschien, scheint oft nicht lang.



Eine Drohung schien darin zu liegen. Ihr Herz begann schneller zu schlagen, als sie die, zur Faust geballte Hand hob, um anzuklopfen.

You'll be mine.        ES FanfiktionWo Geschichten leben. Entdecke jetzt