10. Kapitel

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„Legen Sie das Ding weg!" Juna versuchte die Aufgebrachtheit und die Angst in ihrer Stimme zu verbergen, während der Lauf vor ihren Augen mal nach rechts, mal etwas nach links schwenkte.
Sie beobachtete seinen rechten Zeigefinger, der nervös am Abzug lag und leicht zuckte. Was stimmte denn mit diesem Mann nicht?
„Mr. Bowers!" zischte sie erneut, was ihn aufsehen ließ.
In diesem Moment seiner Unachtsamkeit, drückte Juna den Lauf nach unten, vernahm den lauten Knall und sah schockiert zu Mr. Bowers, der sie genauso erschrocken anblickte.
Mit einem Ruck riss sie ihm die Flinte aus den Händen und beförderte diese in die hinterste Ecke des Zimmers.
Zu ihren Füßen befand sich ein klaffendes Loch in den Holzdielen, das sie an das Maul des obskuren Clowns erinnerte. Scharfkantig und spitz schien es ihr entgegenzubrüllen, wie eine Warnung.
Mr. Bowers spuckte hindurch, wandte sich wortlos um und torkelte von dannen. Juna starrte ihm entrüstet hinterher. Er hätte wirklich auf sie gefeuert und hätte sie nicht so geistesgegenwärtig – oder auch etwas dumm – gehandelt, wäre sie nun nicht mehr.
Ihr Zittern ließ langsam nach, als sie sich zu Henry umdrehte, der leichenblass hinter ihr stand, die Augen vor Schreck geweitet und den Blick auf das Loch im Boden gerichtet.
„H-henry?" sprach sie ruhig und sah ihn an, während er nur langsam wieder zu sich zu kommen schien und schließlich ihren Blick erwiderte.
Er zitterte am ganzen Körper und schien innerlich zerbrochen zu sein.
„Henry!" schrie sie leise, woraufhin er reagierte. „Verdammt – lass uns abhauen!"
Sie umklammerte seine eiskalte Hand und wollte ihn hinterherziehen, doch er stand da wie ein Stein.
„Ich kann hier nicht weg..." hauchte er, sah sie nicht an und verschränkte die Arme hinter dem Rücken.
Sie zwinkerte mehrmals hintereinander, bevor sie begriff, was er da gesagt hatte.
Sie tat wenige Schritte auf ihn zu, nahm sein Gesicht zwischen ihre Hände, sodass er sie ansehen musste.
„Ist dir klar, was gerade beinahe passiert wäre?" hauchte sie, während es ihr schwerfiel, das Zittern in ihrer Stimme zu unterdrücken.
„Wäre nicht das erste Mal..."
Als Juna eine Augenbraue hob, da sie mit seinen Worten nichts anzufangen wusste, schob er sie ein Stück zurück, reagierte damit anders als sie erwartet hatte und entledigte sich seines Pullovers.
Achtlos warf er diesen aufs Bett. Ihr Blick wanderte von seinem Hosenbund langsam nach oben, über seinen flachen Bauch, über seine Rippen und blieb schließlich an der großen kreisrunden Narbe auf seinem Brustbein hängen.
Diese war faustgroß und hob sich deutlich von seiner bleichen Haut ab. Erschrocken schlug sie die Hand vor den Mund, als sie endlich schlussfolgerte, dass Mr. Bowers schon einmal auf ihn geschossen haben musste.
Sein Brustkorb hob und senkte sich in ruhigem Rhythmus, während er in schmerzlicher Erinnerung die Kiefer aufeinanderpresste.
„Damals sagte er, ihm täte es leid, er würde nie wieder die Hand gegen mich oder Mom erheben!" Er senkte den Kopf und fuhr sich mit einer Hand durch die Haare. „Ging zwei Tage gut, da stieß er Mom die Treppe hinunter... Sie landete im Krankenhaus, neben mir im Zimmer."
Henrys Mundwinkel zogen sich nach unten. „Sie hat gesagt, sie würde gehen... Das hat sie oft! ... Mom wurde eher entlassen, doch ich war so schlimm verletzt, dass ich noch wochenlang drinbleiben musste im Krankenhaus. Ich wär fast gestorben... Durch den Schuss wurde meine Lunge verletzt... Im Grunde alles, was mit dem Geschoss in Berührung gekommen ist."
Juna nickte nur, da sie nicht wusste, was sie hätte erwidern können. Sie hegte Zweifel an Mr. Bowers Verstand.
„Mom kam mich noch besuchen... doch irgendwann nicht mehr... Dad kam nie... Mom und ihre Sachen waren weg, als ich nach Wochen wieder nach Hause durfte. Dad sagte, sie ist eine verdammte Hure, hat mir die Schuld gegeben, weil ich keine Hilfe für sie war."
Henry schlug die Hände vors Gesicht. „Und ich weiß nicht mal, warum ich dir das erzähle! ... Ich hab da mit niemandem drüber gesprochen! Nie!"
Wie gern hätte sie ihm gesagt, dass es ab und an gut war, seine Gefühle preiszugeben, dass es gut war, sich alles von der Seele zu reden, doch wann hatte sie das jemals getan? Sie hatte all ihren Schmerz, ihre Wut in sich hineingefressen, mit niemandem darüber gesprochen, bevor sie sich gänzlich von allem abgekapselt hatte.
Sie biss sich auf die Unterlippe und umfing ihren Körper mit ihren Armen. Nein! Sie würde nun einfach den Mund halten und nicht mit Lebensweisheiten um sich werfen!
Henry schnappte sich seinen Pullover und zog diesen wieder an.
Er tat ihr so Leid...
Warum nur, blieb er bei seinem Dad?
In ihr begann ein Kampf zu wüten – einerseits riet ihr, ihr Verstand schnellstmöglich zu verschwinden, doch ihr Herz verweigerte ihr dies. Sie wollte und konnte den Jungen nicht alleinlassen!
Doch war es ein fremdes Kind wert, sein eigenes Leben durch einen Betrunkenen zu verlieren?
Sie sah ihn an, sah in seine blassgrünen Augen, in denen nur Leere und Schmerz lagen, betrachtete die pochende Ader an seinem Hals, bevor sie vorsichtig ihre Hand auf sein Brustbein legte.
„Vielleicht klingt das nun kitschig, wie aus einer Romanze im Liebesfilm, aber... das soll es nicht sein!" Sie holte tief Luft, bevor sie den Blick hob, um ihn erneut anzusehen. „Ich geh nicht ohne dich! Ich möchte dich hier nicht alleinlassen!"
Auch wenn sie wusste, dass sie diese Entscheidung alsbald bereuen könnte, war ihr das Funkeln in seinen Augen jede Strapaze wert.

You'll be mine.        ES FanfiktionWo Geschichten leben. Entdecke jetzt