9. Kapitel

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Henry jagte sein Auto so schnell über die asphaltierte Straße nach Derry, dass sich Juna während der gesamten Zeit am Haltegriff festgeklammert hatte und am liebsten die Augen geschlossen hätte.
Jugendlicher Leichtsinn!
„Kannst du Autofahren?" fragte er, um die Stille zwischen ihnen zu brechen, was sie sehr überraschte.
Etwas perplex schüttelte sie den Kopf und gab ein leises: „Nein" von sich.
„Soll ich es dir zeigen?"
Seine Augen funkelten erwartungsvoll, als er sie für den Bruchteil einer Sekunde ansah.
„Pass auf!" schrie Juna geistesgegenwärtig als sie ihren Blick nach vorn richtete.
Die Bremsen des Wagens quietschten, während er ruckelnd zum Stehen kam. Es roch nach verbranntem Gummi und nassem Asphalt.
Junas Hände lagen zitternd auf dem Armaturenbrett, während die Frau, die gerade über den Zebrastreifen gehen wollte, sie mit Todesangst in den Augen ansah, während sie durch die Scheinwerfer hell erleuchtet wurde.
„Henry?" hauchte Juna, da er einfach nur geradeausstarrte und die Hände um das Lenkrad geklammert hatte, sodass seine Knöchel weiß wurden. „Henry, fahr bitte weiter!"
Sie berührte vorsichtig seinen Arm, fühlte, wie sich die Muskeln unter seiner Haut anspannten, bevor sein Blick den ihren traf.
„Ich wollte das nicht!" Seine Stimme zitterte bei jedem Wort mehr. „Ich wollte das nicht!"
„Es ist nichts passiert! Alles ist gut!"
Auch wenn sie selbst noch aufgeregt war, wusste sie, dass sie ihn beruhigen musste. Vorwürfe, von wegen, dass er gefälligst auf den Verkehr und Fußgänger achten solle, waren fehl am Platze!
„Henry!" Sie wartete ab, bis er zwinkerte um sicherzugehen, dass er ihr zuhörte. „Sieh mal – da ist eine Bar. Lass uns da hineingehen!"
Wortlos lenkte er das Auto in die letzte freie Parkbucht davor und stellte den Motor ab. Sein Brustkorb hob und senkte sich in unregelmäßigem Rhythmus, fast so, als würde er weinen.
„Kennst du das, wenn du einfach nur noch wegwillst?" flüsterte Henry und legte die Hände in den Schoß. „Wenn alles im Leben schiefläuft und du das Gefühl hast, du bist alleine?"
Seine Worte wirkten so erwachsen. Ganz anders als der Tonfall wenige Stunden zuvor.
„Du bist mit deinem Denken nicht allein!" sagte Juna und berührte sacht seine Schulter.
Jedoch wollte sie den aufkommenden Schmerz in ihrem Herzen nicht wahrhaben, öffnete die Beifahrertür und stieg aus. Sie atmete tief ein und wieder aus, kämpfte gegen aufkommende Tränen an.
Sie begriff, dass sie, seitdem sie diese Träume hatte, nie allein gewesen war... Dieses Wesen, dieser Clown war ihr wie ein Schatten gefolgt, lauerte in der Dunkelheit, lauerte in ihren Gedanken, doch was wollte er von ihr?
Das Zuschlagen einer weiteren Autotür riss sie aus ihren Gedanken, während sie ein falsches Lächeln aufsetzte, während Henry um den Wagen herumlief und neben ihr stehenblieb.
„Ich kenn den Laden nicht mal!" meinte er und musterte skeptisch das beleuchtete Schild über der Eingangstür.
Devils Hellfire.
Sicher war das kein geeigneter Ort für Henry, weswegen sie sich ihm zuwandte und ihn ansah.
„Andere Vorschläge?" lächelte sie gequält und betrachtete ihn.
Anscheinend war er es nicht gewohnt, dass man auf ihn einging und auf seine Meinung wartete.
Wortlos war er wieder Richtung Fahrertür gegangen und hatte ihr aufmunternd zugenickt.
Er fuhr weitaus vorsichtiger wie zu Anfang. Schließlich strahlten die Scheinwerfer ein Schild an.
„Auf Wiedersehen in Derry." murmelte sie und richtete ihren Blick zu Henry, der sich voll und ganz aufs Fahren konzentrierte.
Sie rauschten durch ein kurzes Waldstück, ehe er den Blinker setzte und auf dem unbefestigten Seitenstreifen hielt. Etwas verdutzt sah sie erneut zu ihm und da war es... Der Junge konnte tatsächlich lächeln!
Er stieg aus, ging schnellen Schrittes um den Wagen herum und hielt ihr die Tür auf.
Sie stieg aus, fröstelte und sah sich um. Ein Wald bei Nacht... Ihr war nicht wohl dabei, sich jetzt in diesem Moment hier zu befinden.
„Komm!" vernahm sie seine ruhige Stimme und blickte zu ihm auf. „Ich möchte dir etwas zeigen!"
Leicht lächelnd reichte er ihr die Hand. Sie ergriff die seine und ließ sich von ihm führen.
Sie sah sich ständig um, befürchtete, verfolgt zu werden, weswegen sich ihre Hand fester um seine schloss, was ihm nicht entging.
Kalter Regen tropfte aus den Baumkronen auf sie herab, durchweichte den dicken Wollpullover und ließ sie nach kurzer Zeit frieren. Ihre Schritte verursachten raschelnde Laute auf dem Waldboden.
Auf einer kleinen Lichtung blieb er schließlich stehen und deutete auf einen klapprigen Jägerstand. Er hatte doch nicht im Ernst vor, da hinaufzuklettern?
Ungläubig beobachtete sie ihn, wie er Sprosse um Sprosse nach oben ging und sich dort auf einer kleinen Bank niederließ, die geradeso Platz für zwei Personen bot.
Ihre Finger klammerten sich um das raue Holz, als sie es ihm gleichtat, nur mit dem Unterschied, dass ihre Bewegungen weniger galant wirkten wie seine.
„Ich bin gern hier." murmelte er nach einiger Zeit eisigen Schweigens und blickte sie erwartungsvoll an.
Sie erwiderte seinen Blick, bemerkte wieder dieses Funkeln in seinen Augen, welches Zufriedenheit und Frohsinn auszudrücken schien.
Es war erstaunlich, wie schnell er Vertrauen zu ihr gefasst hatte, obwohl er sie doch rein gar nicht kannte.
„Manchmal... wenn mein Dad so ausflippt wie heut, haue ich hierher ab, oder fahre stundenlang mit meinem Auto durch die Gegend."
„Geschieht das öfter?" hauchte Juna, während sich kleine weiße Wölkchen vor ihrem Mund bildeten. „Dass er dich so behandelt?"
Henry schluckte. Das war ihr Antwort genug.
In einer anfangs zögerlichen Geste legte sie einen Arm um seine Schultern, während er sich an sie lehnte, geschehen ließ, was sie tat, auch wenn es ungewohnt für ihn war. Körperliche Nähe bedeutete für ihn nur Schmerz, schien sein Vater ihn doch regelmäßig zu schlagen und zu demütigen.
Sie spürte seinen warmen Atem an ihrem Hals, als sie in den Wald hineinstarrte und einen Punkt anvisierte, der nicht so aussah, wie er eigentlich sollte.
In einiger Entfernung baumelte eine leblose Gestalt an einem Ast. Der Kopf hing seltsam ungesund auf der Schulter, während sie ein Röcheln wahrnehmen konnte. Sie wollte die Augen schließen, doch etwas hinderte sie daran, zwang sie hinzusehen, wie die Gestalt zu zucken begann, als würde sie ersticken. Ihr Puls beschleunigte sich, das Herz drohte aus der Brust zu springen, während sich ihre Fingernägel in Henrys Schulter bohrten.
„Juna!" Der Klang ihres Namens zerriss die Stille um sie her.
Sie fuhr erschrocken auf, während ihr angsterfüllter Blick ruhelos umherwanderte. Hierhin und dorthin huschte, doch nichts entdeckte.
Ein Kichern erklang, allerdings war es hinterlistig und falsch! Ihre Hand tastete vorsichtig durch die Dunkelheit, tastete nach Henry, erfühlte etwas Matschiges, Glibberiges.
Ihrer Kehle entfuhr ein spitzer Schrei als sie auf das Albtraumbild hinter sich blickte.
Dort hing ein verwesender Körper, an dem sich Maden sattfraßen. An dem Haaransatz erkannte sie, dass es Henry gewesen war.
Sie wollte einen Schritt zurückweichen, vergaß dabei jedoch, dass da nichts zum zurückweichen war.
Ihr Fuß tappte ins Leere, der restliche Körper folgte und ehe sie realisieren konnte, was geschehen war, blickten ihre Augen gen sternenklaren Himmel. Jeder Atemzug schmerzte in der Brust, fast so, als wären Rippen gebrochen. Sie versuchte gar nicht erst, sich aufzurappeln.
Auch nicht, als sich schwere Schritte näherten. Sie wusste, dass er es war und schloss die Augen.
Ihm voraus war der süße Duft von Zuckerwatte geeilt, doch nun, da er näher kam, schwand dieser und wurde zu Tod und Erde.
Sie riss die Augen auf, als unweit ihres Ohres dieses düstere Lachen erklang.
„Langweile ich dich..." Sein warmer Atem streifte ihre Wange und ließ sie erschauern.
Ihr war bewusst, dass ihr weinen, schreien, schluchzen in diesem Moment nicht helfen würden, weswegen sie einfach nur ruhig liegenblieb.
Sicher hatte sie sich bei dem Sturz aus dieser Höhe auch etwas getan, was ihr Körper noch durch einen Adrenalinstoß unterdrückte.
Doch das Aufstehen wurde ihr abgenommen. Etwas, wie ein raues Seil hatte sich um ihr Handgelenk geschlossen und sie nach oben gerissen.
Da stand er – vor ihr, während sie in der Luft hing und das Gefühl hatte, ihre Schulter sei ausgekugelt.
Im Licht des Mondes, das durch die Baumwipfel fiel, wirkte er noch monströser und größer als die Male zuvor.
Ein Sing-Sang wie aus Kinderkehlen erklang.

You'll be mine.        ES FanfiktionWo Geschichten leben. Entdecke jetzt