Juna saß in ihrem Zimmer, las ein Buch über Sagen aus alter Zeit, versank in der Geschichte über Göttervater Odin und seine Söhne Thor und Loki. Sie liebte diese Geschichte und hatte sich oft gewünscht einmal Asgard sehen zu können, doch ihr war bewusst, dass es nicht existierte. Die bildhaften Darstellungen des Autors hatten jedoch ausgereicht, dass sie sehen konnte, wie er sich diese fabelhafte Welt vorstellte.
Träumerisch ließ sie sich nach hinten fallen, in weiche Kissen und legte das Buch auf ihrem Bauch ab und schloss für einen kurzen Moment die Augen. Sah goldene Paläste, die dreistreifige Regenbogenbrücke, die von Asgard nach Midgard führte.
Sie seufzte als sie die Augen öffnete und an die triste weiße Decke starrte. Eine Autotür im Hof war laut zugeschlagen worden.
Etwas zu überhastet war sie aufgestanden, wobei das Buch gen Boden fiel und mit dem Buchrücken nach oben liegenblieb.
Es war kurz vor Weihnachten und es lag tatsächlich schon Schnee! Das war selten geworden in den letzten Jahren. Freudig lächelnd trat Juna ans Fenster und sah zum großen weißen Auto hinab, aus dem ihr Vater und ihre Mutter stiegen. Sie redeten nicht viel miteinander, doch heute schien etwas im Argen zu liegen.
Die Beiden waren doch nur eben einkaufen gefahren, oder? Doch da war kein Einkauf im Kofferraum.
Ihre Mutter hatte es sehr eilig ins Haus zu gehen, während ihr Vater noch am Auto stand und den Kopf schüttelte.
Hatten sie sich etwa gestritten? Nein, das glaubte sie nicht! Sie redeten kaum, warum also, sollten sie sich streiten?
Juna kramte eine blaue Jacke aus dem Schrank, die ihr viel zu groß war, doch sie liebte dieses Kleidungsstück, einfach, weil es gemütlich war.
Auf der Treppe kam ihr bereits ihre Mutter entgegen, die geröteten Augen unter wild durcheinanderstehenden Haaren verborgen.
„Mama?" hauchte Juna und striff mit den Fingerspitzen über ihren Arm, doch sie war wie abwesend.
Fragend hatte sie ihr hinterhergesehen, wie sie die Treppe hinaufgeeilt und im Badezimmer verschwunden war. Was war denn geschehen?
„Vati, was ist..." Zum zweiten Mal im Leben, sah sie ihren Vater mit Tränen in den Augen vor sich stehen. „Was ist passiert?"
War jemand gestorben?
Ihr Vater legte ihr seine große Hand auf die Schulter und drückte leicht zu, bevor er sich räusperte und ihm eine einzelne Träne an der Wange hinablief.
„Mutti hat Krebs." brachte er hervor, was Juna den Boden unter den Füßen wegriss.
Sie hatte das Gefühl, ihr Herz setzte für einige Wimpernschläge aus, bevor sie ein verwirrtes „W-was?" hervorbringen konnte.
Es... es war doch Weihnachten... zu Weihnachten bekam man Geschenke, die man sich wünschte! Doch diese Nachricht war keinesfalls das, was man sich wünschte...
War es verwunderlich, dass sie hochschreckte? Sie fragte sich nicht mehr, warum sie diese Erinnerungen heimsuchten.
Ihr Kopf lehnte an der kalten Scheibe, ihr Blick war nach vorn gerichtet, während sie dem monotonen Summen des Motors lauschte.
Henrys Wagen hatte Mühe sich durch knöchelhohen, lockeren Schnee zu kämpfen, der den Weg zu seinem Haus säumte. Sie war sich nicht einmal sicher, ob er überhaupt auf der Schotterpiste fuhr, oder manchmal nicht doch vom Weg abwich.
Sie hatte seit dem gestrigen Abend kein Wort mehr gesprochen, nicht zu Henry, zu keinem Arzt oder zu sonstigen Menschen, die etwas von ihr wollten.
Sie hatte das Gefühl, langsam den Verstand zu verlieren.
Die Heizung des Wagens lief auf Hochtouren, doch Juna fror unglaublich, was ihr des Öfteren sorgenvolle Blicke einbrachte. Sie hasste es, angestarrt zu werden, insbesondere, wenn es ihr so schlecht ging, wie in diesem Moment.
Sie unterdrückte den Drang ihn anzuschreien und richtete ihren Blick weiterhin stur geradeaus.
Das Haus der Bowers tauchte schließlich hinter einer Kurve auf, während sie feststellte, dass es nicht geschmückt war. Keine bunten Lichterketten, oder ein schön dekorierter Baum – einfach nichts!
„Lass mich!" fauchte sie und schlug Henrys Hand weg, als er ihr einfach nur aus dem Wagen helfen wollte.
Sie bereute ihre Worte im nächsten Augenblick, entschuldigte sich dennoch nicht.
Er wirkte wie ein getretener Hund, der seinem Herrn trotzdem weiter folgen würde, egal, wie schlecht ihn dieser behandelte. Kopfschüttelnd verwarf sie diesen obskuren Gedanken, während ihr leicht schwindlig wurde, als sie sich aus dem tiefen Auto bequemt hatte.
Der Boden unter ihren Füßen schien sich zu bewegen, während sie sich am Rahmen festhalten und für einen Moment die Augen schließen musste, um nicht zu fallen.
Schließlich war es ihr gelungen, sich ins Haus zu schleppen.
„Wie geht es dir?" drang die Stimme von Mr. Bowers an ihr Ohr.
Sie war kurz stehen geblieben und hatte ihn ausdruckslos angesehen. Sie legte keinen Wert darauf, sich mit ihm zu unterhalten, weswegen sie lediglich ein leises „Gut." murmelte.
Die Treppe schien unendlich viele Stufen zu besitzen. Laufen schien so anstrengend zu sein. Ihr Puls raste bereits nach der kleinsten Anstrengung.
In Henrys Zimmer ließ sie sich bäuchlings aufs Bett fallen und drückte ihr Gesicht ins Kissen. Es roch leicht muffig, zudem hatte sich der Geruch von kaltem Rauch darin festgesetzt.
„Juna?"
Sie hatte nicht bemerkt, dass Henry das Zimmer betreten hatte.
Er konnte nichts für ihre Laune, warum also sollte er darunter leiden? Sie wandte das Gesicht in seine Richtung und sah zu ihm auf.
Nach gefühlten Stunden ließ er sich auch auf dem Bett nieder, zog jedoch den Arm zurück, nachdem ihr Blick ihm misstrauisch gefolgt war.
Er wirkte nervös, fast so, als ob er nicht wüsste, was er tun sollte.
„Dir geht es nicht gut." begann er ruhig und legte die Hände in den Schoß. „Wenn du möchtest, höre ich dir zu. Das heißt, wenn du reden möchtest."
Sie wandte den Kopf wortlos in die andere Richtung und sah somit an die weiße Wand. Im Moment wünschte sie sich nur Ruhe. Vielleicht würde sich ihr Wohlbefinden verbessern, wenn sie sich etwas sammeln könnte.
Ein seichtes Grinsen umspielte ihre Lippen, als sie ihre Augen schloss und einschlief, obwohl sie nicht müde war.
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You'll be mine. ES Fanfiktion
FanfictionGefangen in einem Strudel aus Wachsein und Träumen begegnet Juna in ihrer eigenen kaputten Welt einem Wesen, das genauso zu sein scheint wie sie selbst... Allein... Selbstzerstörerisch... Langsam der Realität entgleitend, begibt sie sich immer tie...