Kapitel 15

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Henrys rechte Augenbraue zuckte leicht als sie sich regte.
„Was passiert hier?" hauchte Juna leise und schluckte schwer, als sie an sich hinab blickte und schließlich den Blick wieder hob, um in Henrys Augen zu sehen. „I-ich weiß nicht... was ich tue..."
„Merke ich!" erwiderte er leise und ließ ihre leicht schmerzenden Schultern los.
Der Spiegel war leer, zeigte nun nur noch eine schmutzige kahle Fliesenwand.
„Bin ich verrückt?"
„Juna... Der Clown, Pennywise, ist keine Einbildung! Er existiert! Hier in Derry!"
Sie begann damit, sich langsam die Schläfen zu massieren. Wieso fiel ihr rationales Denken denn so schwer?
Die Frage nach dem Warum kroch schmerzlich in ihr empor.
Warum sah sie diese Dinge?
Warum sah sie dieses Ding?
Warum war es keine Einbildung?
Warum war sie nicht mehr in der Lage einen klaren Gedanken zu fassen?
Warum existierte ES?

Henry würde auf ihre Fragen keine Antworten geben können... Das könnte nur der Clown selbst.
„Was geht in deinem Kopf vor?"
Blinzelnd sah sie wieder zu Henry auf, der sie die ganze Zeit über beobachtet hatte. Fast so, als hätte er ihre Gedanken gelesen.
Ein Plan, nicht ungefährlich, begann in ihr zu reifen.
Doch dafür würde sie sich Henrys vorerst entledigen müssen. Doch wie sollte sie das anstellen? Sie brauchte sein Auto!
„Ist dir nicht kalt?" vernahm sie seine Worte, allerdings so, als stünde er weit weg.
Tatsächlich bildete sich auf ihren Armen Gänsehaut, als er zu Ende gesprochen hatte.
Wortlos schob sie sich an ihm vorbei, lief den kühlen Flur entlang, bis sie schließlich in seinem Zimmer zum Stehen kam und missmutig auf die nassen Klamotten blickte, die am Boden lagen.
Die Holzdielen hatten sich bereits mit Wasser vollgesogen.
Seufzend warf sie die nassen Sachen hinaus auf den Gang und schloss die Tür hinter sich. Ihr Blick wanderte zu der kleinen Reisetasche, aus der sie sich wahllos einige Sachen herausnahm und sich überwarf. Der Kragen des schwarzen Wollpullovers roch noch so angenehm nach dem Waschmittel, das ihr Vati immer benutzte.
„Letzte Erinnerung an zuhause." murmelte sie und erhob sich etwas ungelenk und wäre beinah hintenüber gekippt.
„Kann ich dich was fragen?"
Juna zuckte zusammen und war herumgefahren, da sie weder Schritte auf dem Gang, noch das Öffnen der Tür für voll genommen hatte.
Sie hatte zur Antwort lediglich genickt und flüchtig zu Henry gesehen.
Doch er schwieg nur und betrachtete sie. Sie konnte seinen Blick nicht deuten. Kein Argwohn lag darin, keine Lüsternheit.
„Was willst du tun?"
Sie schluckte den Kloß in ihrem Hals hinunter als er Anstalten machte, sich ihr zu nähern. In ihrem Kopf tobte ein Kampf. Ihr Kampf gegen das Gefühl verrückt zu werden, gegen das, was sie gesehen hatte, gegen das, was jetzt im Moment gerade geschah.
Wieso, um alles in der Welt, schrie er sie nicht an, dass sie sich normal verhalten solle? Wieso stand er nun einfach nur da und sah sie an? Wieso tat er verdammt nochmal nichts?!
Sowie sie diese Gedanken zu Ende gedacht hatte, schüttelte sie auch schon den Kopf.
Blödsinn! Alles was sie dachte, alles, was sie tat... war blödsinnig, einfältig, dumm, naiv!
„Er ist in deinem Kopf, nicht wahr?" Nun sah sie mit schreckgeweiteten Augen zu Henry auf, der mit einem Male erwachsener wirkte, wie sie selbst.
Ihrer Kehle entfuhr lediglich ein einzelner Laut, der einem verzweifelten Schluchzen gleichkam, doch zu mehr war sie im Moment nicht fähig.
Ihren Plan, zu diesem unheimlichen Haus zu fahren, erneut in dieses feucht-kalte Verließ hinabzusteigen, um ihrem Albtraum zu begegnen, verwarf sie gänzlich, oder vorerst? Erstaunlich wie schnell sie ihre Entscheidungen über den Haufen werfen konnte, jedoch konzentrierte sie sich im Moment nur auf beruhigende blass-grüne Augen, lauschte dem Klang seiner Atmung, bevor sie sich zu fassen versuchte.
Nie im Leben war Henry dieser grausame Junge aus diesem Tagtraum gewesen! Sie war sich sicher, dass er zu so einer Tat nie im Stande wäre!
„Woher weißt du von dem Clown?" Ihre Worte waren nur ein heiseres Wispern, jedoch zerschnitten sie die herrschende Stille, wie scharfe Messer es mit Fleisch taten.
„Ich kann meinen eigenen Gedanken nicht mehr folgen..." begann sie erneut, als Henry nicht zu sprechen begann. „Ich laufe vor irgendetwas davon, flüchte mich in Tagträume und lief von meinem zuhause fort, verließ meine Lieben und suche... nein! Und fand diesen Clown!"
„Welchen Clown?"
Unbemerkt von Beiden war Mr. Bowers erschienen. Er wirkte keineswegs amüsiert, sowie er am Türrahmen lehnte und sie beobachtete.
Henry stand nunmehr stocksteif da und hatte den Blick gen Boden gerichtet und die Hände zu Fäusten geballt.
Wahrscheinlich war einige Zeit vergangen, bis sich Mr. Bowers schulterzuckend und mit den Worten umgewandt hatte, dass sie sich ebenfalls endlich hinlegen sollten, denn immerhin sei es fast Morgen.
Und wieder begann ihr Herz schneller zu schlagen, sowie sie Henry betrachtete. Der Junge war kaputt, ebenso wie sie selbst. Ein jeder der Beiden war jedoch an anderen schmerzlichen Dingen zerbrochen.
„Dein Auto... Henry bitte!"
Sein entgeisterter Blick traf ihren und sie fühlte sich augenblicklich schlecht, beinahe so, als müsste sie sich übergeben, doch falls das alles wirklich auf bizarre Art und Weise geschah, so musste es doch einen Grund geben!
„Du wirst nicht wiederkommen, wenn du jetzt gehst!" hatte er noch geflüstert.
Wortlos war sie an Henry vorübergegangen, wortlos die Treppe hinabgestiegen, hatte das Haus verlassen und stand nun fröstelnd in der erbarmungslos kalten Nacht.
Stets hatte sie Menschen belächelt und sich über Jene lustig gemacht, die mit ihrem Leben nicht zurechtkamen, doch nun war sie selbst eine von ihnen geworden. Ein verwirrter Geist von vielen. Angreifbar und schwach...
„Psst."
Natürlich kannte sie das Geräusch... dieses betörende, fordernde Zischen, das sie hinter das Haus lockte, wo er sich ihr erneut offenbarte.
Er stand im Halbdunkel, fast unsichtbar unter dem Vordach eines kleinen Schuppens. Lediglich die Glöckchen an seinem Kostüm glänzten seicht, während seine Gestalt nur zu erahnen war.
„Sag, kleine Juna, was wünschst du dir?"
Der Klang seiner Stimme war wie immer unbeschreiblich grausam und wunderschön zugleich.
Und obwohl ihr bewusst sein müsste, dass es falsch war, zu ihm zu sprechen, tat sie es dennoch.
„Zeig mir den ersten Dezemberschnee..." glitt es sacht von ihren Lippen und kurz darauf begann es zu schneien.
Friedlich tanzten große, weiße Flocken gen Boden. Wie schon so oft wiegten Bilder sie in trügerische Sicherheit.
„Was willst du, dass ich tue?" hauchte sie nach einigen tiefen Atemzügen, die ihr das Gefühl gaben, dass zumindest noch ein kleiner Funke Leben in ihr steckte.
Anstatt zu antworten, näherte er sich, während seine Schritte keine Laute auf dem frischen Schnee verursachten und doch war er da und hinterließ Spuren.
In einer seiner unwirklichen Gesten umschlang er sie, sodass er hinter ihr stand und sie an sich presste, während seine Rechte ihren Kopf soweit nach oben drückte, dass sie zu ihm aufsehen konnte und sein linker Arm um ihren Bauch gelegt war.
Trotz des schmerzenden Genicks tat sie nicht dergleichen, sich in irgendeiner Art und Weise zu wehren.
„Ich sehe den Schmerz in deinen Augen... Und die dunklen Wolken, die dich stets umschleiern... Er macht dich einsam – dieser Schmerz... Absorbiert dich von der Welt."
Sein warmer Atem auf der Haut ließ sie erschauern.
„Ist es nicht so, kleine Juna?"

You'll be mine.        ES FanfiktionWo Geschichten leben. Entdecke jetzt