Juna kam sich unglaublich unbeholfen in ihrer jetzigen Situation vor.
Ihr Blick glitt zum Fenster hinaus und traf auf Henry, der sich auf dem Boden der hölzernen Terrasse niedergelassen und die Waffe seines Vaters zerlegt hatte, um diese zu reinigen, so wie es ihm vordiktiert worden war.
„Kommen Sie – ich zeig Ihnen das Zimmer!" raunte Mr. Bowers und fuhr sich mit der Hand übers Gesicht und durch die kurzen Haare. Er wirkte müde, wahrscheinlich hatte er eine anstrengende Nachtschicht hinter sich.
Sie hingegen war aufgeputscht durch den starken Kaffee.
„Bitte duzen Sie mich." gab sie recht leise von sich, was ihr gegenüber mit einem leichten Kopfnicken abtat.
Er gab ihr ein Zeichen, ihm zu folgen als er durch das Halbdunkel des Hauses ging, während Juna Mühe hatte, nicht über irgendwelche Dinge zu stolpern, die im Weg herumstanden, oder lagen.
Eine alte Treppe ohne Geländer führte steil ins Obergeschoss. Sie tastete sich vorsichtig an der Wand entlang, während Mr. Bowers schon am oberen Treppenabsatz auf sie wartete und endlich Licht eingeschaltet hatte.
„Stör dich nicht an der Unordnung!" Er machte eine unwirsche Geste mit seiner Hand und deutete auf etliche zugeklebte Kartons. „Mein unnützer Sohn sollte die eigentlich vor Tagen schon in den Keller bringen."
„Das kann ich doch machen!" bot sie an, woraufhin Mr. Bowers eine Augenbraue nach oben zog.
Wenn sie schon für ein paar Tage hierbleiben dürfte, könnte sie sich auch nützlich machen!
Ohne weiter auf ihre Worte einzugehen, setzte er seinen Weg fort und blieb vor einer Tür stehen, die schon mehr als kaputt war. Jemand hatte wohl in rasender Wut dagegengetreten und ein großes Loch hinterlassen.
Kalter Schweiß brach auf ihrer Stirn aus, als sie sich fragte, aus welchem Grund jemand so ausgerastet war, jedoch hütete sie sich, ihn danach zu fragen.
Die Tür öffnete sich knarrend und quietschend. Anders als erwartet, herrschte in dem Zimmer eine unnormale Ordnung, die sicher nirgends im Haus vorzufinden war.
Einzig und allein das Bett war nicht gemacht, jedoch würde sie sicherlich frische Bettwäsche bekommen.
Mr. Bowers Kehle entfuhr ein Ton, den sie kaum beschreiben konnte, als sein Blick eben jenes Bett traf. Es war halb Knurren, halb Seufzen, während sein Kopf rot anlief.
„Henry! Hier her!" donnerte seine Stimme und ließ sie zusammenzucken, obwohl die Wut in seinen Worten nicht ihr galt.
Der Junge kam im Eiltempo ins Zimmer gerannt und stand nun stramm im Türrahmen und sah gen Boden.
„Ja Sir." vernahm sie zum ersten Mal dessen gebrochene Stimme und erschauerte vor dem Gehorsam, der darin lag.
Mr. Bowers ging auf ihn zu, wobei Juna zurückwich und sich mit dem Rücken gegen den Schrank presste.
Die große Hand von Mr. Bowers schloss sich um das Genick des Jungen, bevor er diesen nach vorn stieß.
„Was ist das?" raunte er seinem Sohn ins Ohr.
Hilflos betrachtete Juna Henry, der am ganzen Leib zu zittern begann.
„Was ist das?" brüllte er ihm nun unmenschlich laut ins Ohr.
„Ich hab es vergessen. Tut mir leid – tut mir leid!" wimmerte Henry.
„Tut mir leid – wer?" brüllte Mr. Bowers weiter.
„Tut mir leid, Sir!"
Er ließ endlich von dem Jungen ab, während Juna noch immer mit schreckgeweiteten Augen dastand und die Situation noch nicht einordnen konnte. Sie kannte diesen Umgang nicht. Nie im Leben hätten ihre Eltern Hand an ihr angelegt.
Beschämt warf Henry ihr einen flüchtigen Blick zu, bevor er sich davonstahl und sie wieder mit Mr. Bowers allein war.
„Keine Ordnung dieser Bengel!" monierte er, was Juna doch sehr wunderte, wenn sie an den Gesamtzustand des Hauses dachte.
Da sie nun wusste, was für ein Mensch er war, traute sie sich nicht einmal mit dem kleinsten Muskel zu zucken, sondern stand einfach nur angespannt da.
„Ich lasse dir dann neues Bettzeug bringen!" warf er irgendwann ein und klang dabei wieder einigermaßen normal.
Als er gegangen war und die Tür hinter sich zugezogen hatte, wurde ihr bewusst, wer diese eingetreten hatte.
Vielleicht wäre es doch besser gewesen, erstmal in der Bahnhofshalle zu bleiben.
Seufzend zog sie ihren durchnässten Parker aus und hing ihn über den Stuhl, der am Schreibtisch stand, ehe sie sich weiter umsah. Es gab keine Bilder an den weißen Wänden, keinen Farbtupfer – alles wirkte steril. Sogar die Flächen auf den Schränken waren staub- und fusselfrei.
Doch wenn sie an das eben Geschehene zurückdachte, war ihr klar, warum Henry Ordnung hielt.
Sonst gab es hier nichts, was ungewöhnlich für ein Teenagerzimmer wäre.
Etwas, wie ein zaghaftes Klopfen ließ sie zusammenzucken und herumfahren. Henry stand bereits im Türrahmen mit einem Paket Wäsche in den Händen.
Er starrte sie regelrecht an und legte es wortlos ab.
„Behandelt er dich immer so?" hauchte Juna, als er sich bereits zum Gehen umgewandt hatte.
Er tat nicht dergleichen, ihr zu antworten, doch sein Blick sprach Bände. Für sie war es unverständlich, wie man sein eigen Fleisch und Blut so schrecklich behandeln konnte.
Einige Zeit später traute sich Juna aus dem Zimmer heraus, schlich den langen Gang entlang, während die Holzdielen unter ihren Füßen knarrten.
Im Erdgeschoss lief ein Fernseher, was sie zu der Annahme brachte, dass sich Mr. Bowers sicher nicht zur Ruhe begeben hatte.
Auch wenn sie ihm nun vorsichtiger gegenübertreten würde, als am Bahnhof, wollte sie sich erkenntlich zeigen und nachfragen, ob sie etwas im Haushalt tun sollte.
Äußerst vorsichtig ging sie die Treppe hinab, die von oben noch steiler wirkte und folgte dem Klang des laufenden Fernsehers.
Mr. Bowers saß in einem großen Ohrensessel im Wohnzimmer. Irgendeine Reportage lief gerade, doch er hatte den Blick bereits in ihre Richtung gerichtet.
Sie, etwas erschrocken darüber, wich einen Schritt zurück, doch er wies sie mit einer Geste an, näherzukommen.
„Setzen!" fügte er an, nahm sich eine Zigarette aus der Schachtel, welche auf dem Beistelltisch lag und zündete sie an. „Auch eine?"
Juna schüttelte entschieden den Kopf, als sie sich auf einem gepolsterten Stuhl niederließ.
„Vernünftig!" bemerkte Mr. Bowers, als er einen tiefen Zug genommen und den Qualm ausgestoßen hatte. „Wo kommst du her, Juna?"
„Aus Deutschland." Den genauen Ort wollte sie ihm nicht preisgeben, auch wenn er damit sicher auch nichts anfangen hätte können.
Er zog eine Augenbraue nach oben. „Dann ist dein Englisch aber sehr gut. Warst wohl eine gute Schülerin?"
Juna nickte.
„Wie alt bist du?"
„Sechsundzwanzig." antwortete sie lediglich, während er kurz nickte.
„Und was trieb dich nach Amerika?"
Seit einem ganzen Tag hatte sie nicht daran denken müssen, doch nun, sowie sie dies tat, füllten sich ihre Augen mit heißen Tränen, während der Kloß in ihrem Hals sie unfähig machte zu sprechen. Sie versuchte die Tränen fortzublinzeln, den Schmerz aus ihrem Herzen zu verbannen, doch es wollte einfach nicht gelingen, weswegen sie die Hände vors Gesicht schlug, während ihrer Kehle ein leises Schluchzen entfuhr.
Eine warme Hand berührte sie am Oberarm, drückte leicht zu.
„Was ist los? Möchtest du mir etwas erzählen?"
Für einen kurzen Moment war sie versucht, ihm zu sagen, warum sie in Amerika war, verwarf den Gedanken jedoch und stützte sich mit den Ellbogen auf ihren Oberschenkeln ab, während ihr Mr. Bowers ein Taschentuch reichte.
Sie räusperte sich. „Meine... Mama ist verstorben und... anscheinend..." Wieder entfuhr ein jämmerliches Schluchzen ihrer Kehle. „Komme ich damit nicht zurecht..."
Ihr Gegenüber nickte verständnisvoll, während sie ihm diese Reaktion abnahm.
Sie begann damit, nervös auf ihrer Unterlippe herumzukauen, während ihr unablässig Tränen an den Wangen hinabkullerten.
Mr. Bowers schien mit der Situation überfordert. Er erhob sich und kratzte sich am Hinterkopf.
„Entschuldigen Sie..." schluchzte Juna und räusperte sich erneut.
Er gab ein abfälliges Schnauben von sich, was Juna aufsehen ließ. Er hatte den Kopf geschüttelt.
„Jeder verarbeitet Trauer anders!" gab er von sich und nahm seine Zigarette wieder auf. „Der eine so, der Andere so. Alles ganz normal!"
Sie warf einen Blick auf die große Standuhr neben dem Kamin. Sie zeigte halb zwölf.
Solange war sie schon hier?
„Fühl dich hier ganz wie zuhause!"
Juna nickte nur, obgleich seiner Worte und wischte sich die Tränen fort. Wann hatte sie das letzte Mal einem anderen Menschen gegenüber ihre Gefühle preisgegeben, geschweige denn, Tränen vergossen?
Das Knarren von Stufen gab ihr das Zeichen, dass Mr. Bowers ins Obergeschoss gegangen war, während ihr Blick zum Fenster glitt und an Henry hängen blieb, welcher noch immer mit der Waffe seines Vaters beschäftigt schien.
Ihr war unwohl bei dem Gedanken, sich ihm zu nähern, doch hingegen allem menschlichen Verstand, war sie schließlich in die Kälte hinausgetreten.
Augenblicklich schlang sie die Arme um den frierenden Leib, während sie Schritt um Schritt auf den Jungen zuging. Er hatte kurz aufgehorcht, seine Körperspannung ließ nach, als er begriff, dass es nicht sein Vater war, der sich näherte.
Sie trat um ihn herum, da er mit dem Rücken zu ihr gesessen hatte und hockte sich hin, um zu betrachten, was er da tat.
„Ich bin Juna." sagte sie, während eine übertriebene Freundlichkeit in der Stimme mitschwang.
Henry unterbrach sein Tun und sah sie an. In seinen Augen lag Schmerz, Verzweiflung, Hilflosigkeit... aber vor allem Angst.
„Und was willst du hier?" fragte er trotzig, wie es Teenager eben taten. „Hast du was mit meinem Dad?"
Juna lief ein eiskalter Schauer am Rücken hinab, obgleich seiner Worte.
„W-was?" fragte Juna und sah ihn ungläubig an.
Hatte er das gerade wirklich gesagt?
„Er ist kein netter Mensch! Und er tut nie irgendwas ohne Grund!"
Juna sprang regelrecht auf, jedoch ohne den Blick von Henrys Augen abzuwenden.
„Du solltest nicht hier bleiben!" fügte der Junge zu ihren Füßen noch an und wandte sich wieder seiner Aufgabe zu und ignorierte sie.
Ihr war bewusst, dass in der heutigen Zeit vielmehr Gefahr von Leuten ausging, die nicht danach aussahen.
Sie wusste nicht mehr woher, aber aus einem Interview glaubte sie noch den Satz zu kennen: Heutzutage haben Leute in teuren Anzügen und Uniformen viel mehr Potenzial, böse zu sein.
Henry würde nicht weiter mit ihr sprechen, seine Körpersprache verriet Abneigung.
Seufzend und auf Grund der Kälte, hatte sie sich zitternd in das beheizte Haus zurückgezogen und begann einfach damit, umherstehende Kartons übereinanderzustapeln, sodass diese nicht mehr im Weg herumstanden.
Jedoch unterbrach sie ihre Arbeit, als ihr ein Karton in die Hände fiel, der verstaubt und an etlichen Stellen schon sehr kaputt war.
„Memories..." hauchte Juna und entfernte vorsichtig das Paketklebeband, um hineinsehen zu können.
Ein Bilderrahmen mit zerbrochenem Glas war das Erste, was sie herausfischte. Das Bild zeigte insgesamt drei Personen, doch nur zwei davon lächelten. Sie erkannte Mr. Bowers und Henry. Die wunderschöne Frau mit kastanienbraunen Haaren und der hellen Haut, musste dann wohl Henrys Mutter sein. Ihre Augen waren leer, ihr Gesicht zeigte keinerlei Regung, während sie Henrys Hand verkrampft festzuhalten schien. Sie trug ein weißes Tuch um den Hals, doch darunter konnte man deutlich die blau-grünen Flecken erkennen, die eindeutig Würgemale waren!
Juna hob den Blick und sah sich verstohlen um. Sie hatte das Gefühl, beobachtet zu werden, entdeckte allerdings niemanden.
Als sie den Blick wieder senkte, erschrak sie, zuckte zusammen, bevor sie den Bilderrahmen in den Karton geworfen und schnell den Deckel geschlossen hatte.
Ihr Herz hämmerte schmerzhaft in der Brust, während sie das eben Gesehene realisieren konnte.
Keine Familie war darauf gewesen, keine Einheit... Ihr Atem entfleuchte stoßweise ihrer Lunge. Wieder diese orangenen Augen, die sie wie ein Spiegelbild angeblickt hatten. Wieder diese Albtraumfratze.
Juna sprang auf und riss dabei einen Stapel Kartons um, ehe sie sich daran machte, die Treppe hinaufzustolpern und in Henrys Zimmer zu flüchten.
Sie kauerte sich in der einzigen freien Ecke, links des Zimmers zusammen, zog die Beine so dicht an den Körper, dass ihr Rückgrat schmerzte.
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You'll be mine. ES Fanfiktion
FanfictionGefangen in einem Strudel aus Wachsein und Träumen begegnet Juna in ihrer eigenen kaputten Welt einem Wesen, das genauso zu sein scheint wie sie selbst... Allein... Selbstzerstörerisch... Langsam der Realität entgleitend, begibt sie sich immer tie...