6. Kapitel

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Ihre Faust berührte die Tür – zaghaft, das Klopfen war zurückhaltend.
„Bietet sie Schutz? Dir oder mir?" widerholte Juna leise und betrachtete das Blut, das aus den Einkerbungen der Tür hinaussickerte.
Dünne Rinnsale tiefroten Blutes ergossen sich gen Boden, bildeten eine Pfütze, in dessen Mitte sie nun stand.
Wovor sollte diese Tür Schutz bieten? Sie öffnete sich doch nicht! Sie hatte getan, was die unheimliche Stimme geflüstert hatte, doch nichts war geschehen.
Kopfschüttelnd hatte sie für einen Moment die Augen geschlossen.
„Das – ist – nicht – echt!" hauchte sie, während es eiskalt um sie her wurde.
Sie nahm ihren ganzen Mut zusammen, öffnete die Augen und klopfte ein weiteres Mal, lauter, fordernder. Die Blutlache um sie herum begann bereits zu gefrieren, während sich bei jedem ihre Atemzüge kleine weiße Wölkchen vor ihrem Mund bildeten.
Hinter der Tür regte sich etwas...
Ein Poltern, dann ein Schrei aus der Kehle eines Kindes, ehe sich die Tür vor ihr einen spaltbreit auftat.
Zögernd starrte Juna auf das halb geronnene, halb gefrorene Blut an selbiger.
Ein angstvolles, schmerzverzerrtes Wimmern drang an ihr Ohr. Weinen, schluchzen, doch plötzlich Stille.
Nun streckte sie langsam die Hand aus, zitternd und voller Furcht vor dem, was dahinter lauern würde.
Auch wenn alles in ihr schrie, sie solle fortlaufen und das sehr weit, überwog eine Art krankhafte Neugier, was sich hinter der Tür verbergen mochte.
Mit leichtem Druck stieß sie die Tür auf und trat durch den Rahmen hindurch in ein meterhohes Gewölbe.
Den Kopf in den Nacken gelegt, betrachtete sie den Berg an Müll und Schrott, welcher sich zu ihrer rechten auftürmte. Spielsachen, Dreiräder, Fahrräder, Kleidung...
Juna stand bereits bis zu den Knien in widerlich grauem Wasser, als sie auch die Kinder sah, die frei in der Luft um diesen Berg aus Schrott herumschwebten. Manche grau, schon halb verwest, andere noch mit rosiger Haut, jedoch... angenagt?!
Erschrocken von dem Anblick, welcher sich ihr bot, wollte sie einen Schritt zurückweichen, stieß aber gegen etwas, dass vor wenigen Augenblicken noch nicht dagestanden hatte.
„Hmm."
Sie kannte dieses tiefe einatmen, diese beinah unmenschliche Stimme.
„Jede Warnung ignorierend, jedem menschlichen Verstand zum Trotz stehst du nun hier – warum? Sag mir, kleine Juna, warum!"
Seine Worte waren wie Nadelstiche auf ihrer Haut, schmerzten, schienen ihren Geist einzuhüllen und sie hörig zu machen.
„Ein Schrei in der Dunkelheit... da war ein Schrei!" hauchte Juna, ohne sich umzusehen.
„Was noch?" zischte er, wobei sein warmer Atem dicht neben ihrem Ohr war und ihre Wange berührte.
Ungewollt war sie zusammengezuckt.
Angst... Angst lag in der Luft. Nicht ihre eigene, sondern die hunderter Kinder! Sie war beinahe zum Greifen nah.
„Was tust du mit ihnen?" hinterfragte sie vorsichtig und spürte eine Hand im Nacken, die langsam, aber kräftig zudrückte.
„Das, was ich mit jedem tue, der mir seine Angst zeigt!" Erklang ein Knurren und ließ sie erschaudern.
Er labte sich an kindlicher Angst?!
Juna hatte sich in einer unwirklichen Bewegung aus seinem Griff gewunden und sah ihn an.
„Du bist ein Monster!" hauchte sie, während ihre Stimme zitterte und ihm natürlich auch ihre eigene Angst verriet.
Seine Augen zogen sie in seinen Bann, wie einst, ließ sie alles Schreckliche um sie her vergessen zu machen.
„Und was willst du von mir?" wisperte sie leise. „Willst du mir das Gleiche antun, wie diesen Kindern?"
„Nenne mir Gründe, dies nicht zu tun!" neckte er sie spielerisch, jedoch war es ihm todernst.
Sein Mund verzog sich zu diesem obskuren Grinsen, während seine Augen die Farbe ihrer eigenen annahmen, stahlgrau, was sie erneut einen Schritt zurückweichen ließ.
„Ich warte!" fügte er fordernd an und folgte ihr, gab ihr keine Möglichkeit, ihm zu entkommen.
Schließlich hatte er sie in die Enge getrieben. In eine Ecke, aus der sie nicht flüchten konnte.
„Erzähl mir etwas über dich. Schließlich möchte ich wissen, mit wem ich hier spiele!" forderte er von ihr, während sie unfähig war zu sprechen, zu blinzeln, geschweige denn zu atmen.
Sie presste ihre Kiefer aufeinander, ballte die Hände zu Fäusten.
„Sag mir, was du am meisten fürchtest!"
Seine Hände nun links und rechts neben ihrem Kopf platziert, sein Gesicht so nah an ihrem, dass sich ihre Nasenspitzen fast berührten, nahm er ihr jegliche Hoffnung auf Flucht.
Sie versuchte den Kloß in ihrem Hals herunter zu schlucken, während sie befürchtete, dass er das Hämmern ihres Herzens wahrnehmen könnte.
„Oh – das kann ich!" Seine rechte Hand berührte ihren Körper, fühlte den schnellen, unregelmäßigen Herzschlag, während er sie an die Wand presste.
Aus einem, ihr unerklärlichen Grund, verschwand ihre Angst, je näher er ihr kam.
Wieder sog er ihren Geruch ein, während seine Augen die ursprüngliche Farbe annahmen.
Seltsamerweise ließ ihn das nun nicht mehr unheimlich wirken.
Sein triumphierendes Lächeln erstarb. So, als hätte er ihre Gedanken gelesen.
„Ich..." begann Juna zögerlich, betrachtete sein Gesicht, so gut es ihr durch das Halbdunkel möglich war. „Ich habe den Tod bereits gesehen... Nichts Irdisches könnte schlimmer sein, als jemanden, den man liebt leiden und sterben zu sehen!"
Ihre Augen hatten sich mit heißen Tränen gefüllt, die sie jedoch wegzublinzeln versuchte.
„Aber ICH!"
Schneller, als dass sie seine Bewegung hätte wahrnehmen können, hatte sich seine Hand um ihren Hals geschlossen und sie um einige Zentimeter nach oben gehoben, als würde sie nichts wiegen.
„ICH bin nichts Irdisches!" knurrte er, wobei sie nun seinen Worten Glauben schenkte.
Seine Augen blitzten gefährlich auf, während sie verzweifelt versuchte, sich zu befreien.
Ein ungesundes Knacken ihrer Wirbelsäule erklang, als sich selbige langsam auseinanderzog. Sie konnte einen Schmerzschrei nicht unterdrücken und krallte sich an seinem Arm fest, während ihre Füße nach ihm traten.
Doch er lachte... Es war kein menschlicher Laut...
„Komm zu mir – meine kleine Juna! Komm zu mir! Finde mich!"
Sein Lachen wurde immer verrückter, bevor sich seine Laute regelrecht überschlugen und auch seine Bewegungen schneller wurden. Sie schloss die Augen, um dieses unwirkliche Bild vor sich ausblenden zu können.
Mit einem heftigen Ruck wurde sie jedoch fortgeschleudert, landete in ekelerregendem Dreckwasser, tauchte schnell auf und...

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