Kapitel 4

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„Dylan! Aufwachen!" Mein Vater zog mir die Decke von meinem nackten Oberkörper und ich grummelte irgendetwas Unverständliches. Ich blinzelte auf die Uhr. Halb sechs.

„Dein Bus kommt schon um 7:15 Uhr", sagte er und machte das Fenster auf.

„Ich werde gebracht."

„Sag das doch früher! Dann schlaf weiter, ich weck dich in 45 Minuten."

Aber das tat ich nicht. Ich lag hellwach in meinem Bett. Mein Zimmer bestand hauptsächlich noch aus Kartons, also fing ich an ein paar Möbel auszuräumen.

Um sechs Uhr hatte ich dann eine halbwegs stehende Kommode. Ich ging ins Bad und duschte. Es klingelte und Rehava stand vor der Tür.

„Es ist halb sieben", seufzte ich.

„Ich weiß, tut mir Leid, Glücksfall, aber ich hatte echt Langeweile zuhause."

„Macht nichts."

„Hallo, du musst wohl Faruk sein." Meine Mutter stürmte zur Tür und gab ihm aufgeregt die Hand.

„Rehava", verbesserte er lächelnd.

„Oh, ja natürlich. Willst du mit uns frühstücken? Ich hab schon gedeckt."

„Nein, danke. Ich habe schon gegessen." Ich warf meiner Mutter einen genervten Blick zu.

„Wir gehen jetzt."

„Nein, Dylan. Du hast noch nichts gegessen."

„Tu ich in der Stadt." Und mit diesen Worten verließ ich das Haus.

„Lass mich raten...Wir fahren in die Stadt." Rehava ging auf ein kleines, rostiges Auto zu und hielt mir stolz die Türe auf.

„Nur wenn du willst."

„Aber natürlich. Ich muss dir doch noch die schönen Ecken hier zeigen."

Unsere Schule lag direkt in der Altstadt, also blieben Rehava und ich bis acht Uhr bei Starbucks und tranken unseren Kaffee.

„Und? Hast du deine Eltern schon gefragt."

„Ups, hab ich wohl vergessen", gab ich zögernd zu.

„Egal, hast ja noch Zeit", lachte er, während wir für die letzten freien Minuten vor dem Unterricht über den Schulhof schlenderten. Plötzlich hörte ich ein lautes Quietschen und Violetta bremste mit einem klapprigen Fahrrad vor unseren Füßen.

„Gib mal", sagte sie und nahm meinen Kaffeebecher ohne auf Erlaubnis zu warten.

Sie hatte einen Pferdeschwanz, bei dem vorne zwei Strähnen rausguckten. Sie trug ein weißes T-Shirt und eine dunkle Jeans, die ihrer Figur sehr schmeichelte.

„Erzähl", rief sie und guckte mich fordernd an.

„Was genau", fragte ich.

„Oh, Dylan! Ob du mit darfst natürlich."

„Er hat's vergessen", antwortete Rehava für mich und ich brachte nur ein unschuldiges Lächeln raus.

Violetta guckte mich kopfschüttelnd an. „Unglaublich."

„Der Unterricht hat schon begonnen", ermahnte uns ein Lehrer, den ich bisher noch nicht kannte und zeigte mit einer Kopfbewegung auf die Klassenräume. Wir nickten nur entschuldigend und Violetta ging in ihr Raum und Rehava und ich in unseren. Wir hatten Chemie, sie hatte Französisch.

Herr Kolsten war noch nicht da, als wir das Zimmer betraten und die Schüler saßen in Gruppen auf den Tischen, erzählten und lachten. Bis jetzt hatte sich keiner sonderlich dafür interessiert mit mir ein Gespräch anzufangen. Meine Sitznachbarin war nicht da, also setzte sich Rehava neben mich und fing an Hausaufgaben zu machen. Er hatte mir erzählt, dass Schule wichtig für ihn war und er es bis jetzt immer geschafft hatte, ein gutes Zeugnis zu kriegen. Er zeigte mir sein letztes. Tatsächlich bestand es nur aus Einsen und Zweien. Ich bewunderte ihn dafür, seine schulischen Leistungen auf die Reihe zu kriegen und dennoch genug Zeit für Freunde zu haben.

Herr Kolsten kam mit einer zehnminütigen Verspätung und statt sich zu entschuldigen oder uns einen guten Morgen zu wünschen, fing er direkt mit dem Unterricht an. Chemie war noch nie meine Stärke. Im Gegensatz zu Rehava, wessen Arm andauernd nach oben schoss. Ich dachte nach, wie lange ich noch Vorteile als ‚Neuer' haben werde, bis ich dann für meine Faulheit kritisiert werde. Doch mehr als ermahnende Blicke hatte ich bis jetzt noch nicht bekommen.

Am Ende der Stunde teilte er uns Informationsschreiben für die Klassenfahrt aus und als er mit dem Stapel Blätter bei mir ankam, erklärte er mir, worum es ging und ob ich mitfahren würde.

„Ich muss noch meine Eltern fragen", sagte ich.

„Die wollte ich sowieso nochmal anrufen. Ich wollte mit ihnen über ein paar Dinge sprechen, bei denen ich meine, sie seien wichtig."

„Okay, ab sechs Uhr sind sie erreichbar", versicherte ich ihm und verließ mit Rehava den Klassenraum.

„Kannst du kochen", fragte er mich.

„Ich schätze schon. Bis jetzt hat sich noch niemand beschwert", sagte ich. Vielleicht lag das auch daran, dass meine Eltern die Einzigen waren, die von meinen Kochkünsten kosten durften und ich würde ihnen zutrauen, selbst verbranntes Fleisch, als ‚Hervorragend' zu bezeichnen, solange es von mir zubereitet wurde.

„Super. In den Bungalows müssen wir uns nämlich selber versorgen und Violetta und ich sind die absoluten Nieten, was das Kochen angeht. Faruk kann nur türkisches Essen machen und das trifft nicht so ganz meinen Geschmack. Ich hoffe wir haben mehr Glück mit dir", sagte er.

„Ich kann nichts versprechen", lachte ich und ging auf die Tischtennisplatte zu, auf der Violetta mit angewinkelten Beinen lag. Sie richtete sich auf, sobald sie uns bemerkte.

„Faruk schwänzt. Ohne uns", seufzte sie.

Rehava schüttelte den Kopf. „Warum?"

„Heute ist ein Fest in der Stadt, da soll ziemlich viel los sein. Faruk hielt das wohl für wichtiger als Schule", sagte sie.

„Ich hab gerade nichts von einem Fest gesehen", wandte ich mich an Rehava.

„Wir waren ja auch nur bei Starbucks und nicht auf dem Marktplatz."    Ich nickte.

Sie betrachtete mich von oben bis unten. „Iss das", sagte sie, nachdem sie eine Weile in ihrer Tasche rumgekramt hatte und dann schließlich eine Tafel Schokolade rauszog.

„Warum?"

„Du bist dünn", sagte sie.

„Kein Grund fett zu werden", sagte ich. Sie lachte. Ich aß trotzdem.

„Gehst du gerne feiern", fragte Rehava mich, während ich genüsslich ein Stück nach dem anderen abbrach. Ich genoss es, mal was Ungesundes zu essen, da meine Eltern für gewöhnlich Süßigkeiten durch Obst ersetzten.

„Ich war noch nie wirklich feiern. Ihr müsst wissen, ich hatte keine Freunde und alleine feiern zu gehen, erschien mir doch ein wenig armselig."

Violetta lächelte zufrieden. „Ich freue mich umso mehr auf die Klassenfahrt, wenn du mitkommst, Dylan. Wir holen dich raus aus dem kleinen, leeren, beklommenen Loch, in dem du dich befindest."

„Hey! Ich war schon immer eine ruhige Person. Ich bin in keinem Loch", sagte ich gespielt beleidigt.

„Tief im Inneren bist du eine wilde Partymaus", lachte sie.

„Wir werden sehen."

ViolettaWo Geschichten leben. Entdecke jetzt