30.August 1888 - Abend

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Harry:

„Urteil: Mord durch Unbekannt!" Detective Inspector Payne schüttelte den Kopf und setzte sich seinen Hut wieder auf, als er und Harry das Gerichtsgebäude verließen. Heute war vor Gericht der Fall von Martha Tabram verhandelt worden und zum Verdruss der Polizei, musste man das Urteil gegen Unbekannt erlassen.

In den letzten Tagen hatten sie in alle Richtungen ermittelt, Unmengen an Leute befragt und waren doch zu keinem Ergebnis gekommen. Außer, dass man in der Polizeistation nun eine Menge Akten herumliegen hatte, war man nicht weitergekommen. Mr Payne ging grummelnd neben Harry her und man bemerkte schon an der Art und Weise, wie er ging, dass er ziemlich sauer war. Es war eine ziemliche Niederlage für die Polizei, dass sie den Täter nicht gefasst hatten, wo Martha Tabram doch im Treppenhaus eines Wohngebäudes umgebracht worden war. Niemand hatte etwas gehört oder gesehen und der Täter schien sich einfach in Luft aufgelöst zu haben.

Es war äußerst unüblich, dass man nichts mitbekommen hatte und die Presse hatte bereits hämisch getitelt: „Whitechapel Police Departement kommt dem Täter nicht auf die Spur!" So etwas lesen zu müssen, tat natürlich zusätzlich weh und kratzte am Ego der Männer. „Dann werde ich die Akten schließen, sobald ich im Büro bin", sagte Harry und klang dabei nicht weniger frustriert, als sein Chef. Sie passierten eine Straße in der Nähe des Schlachthauses von Spitalfields und wichen einem Mann aus, der gerade einen Eimer Blut auf die Straße kippte. Es sickerte im Rinnstein zum Abfluss in der Straße und blieb in den Fugen des Kopfsteinpflasters hängen. Mit gerümpfter Nase gingen die beiden Polizisten weiter und erreichten trockenen Fußes das Polizeirevier. Eine Frau wurde gerade hineingeführt und verkündete lautstark, man könne ihr überhaupt nichts nachweisen. Harry kümmerte sich nicht darum, es ging ihn nichts an. Sein Fall war nun abgeschlossen und er musste sich mit den Akten herumschlagen. Mr Payne ging geradewegs in sein Büro und Harry sah durch die Glasscheibe, dass er sich eine Pfeife ansteckte. Lange kannte er seinen Chef zwar noch nicht, doch er hatte schon bemerkt, dass dieser meist dann rauchte, wenn er sich ärgerte, oder nachdenken musste.

Die Akte von Martha Tabram landete in einem Schrank im Hinterzimmer und Harry wollte gerade Feierabend machen, als Mr Payne nochmal hereinkam. „Styles, ich brauche Sie heute Nacht für die Patrouille. Der Kollege Gibbs hat soeben um eine Vertretung gebeten, seine Frau bekommt ein Kind." Mr Payne sah zwar so aus, als fände er das nicht sonderlich wichtig, doch Harry nickte. Er selbst hatte keine Kinder, doch er verstand, wenn ein Mann in der Nacht der Geburt keine Streife gehen wollte. Er zog die Taschenuhr aus der Weste und sah darauf. „Es ist aber erst 18 Uhr. Wäre es möglich, dass ich vorher noch etwas esse, Sir?" Sein Magen knurrte schon eine ganze Weile und er musste dringend eine Mahlzeit zu sich nehmen, wenn er die ganze Nacht unterwegs sein sollte. „Natürlich. Sehen Sie nur zu, dass Sie pünktlich um 22 Uhr hier sind, um die Schicht von Mr Anderson zu übernehmen."

„Sehr wohl, Sir." Harry nickte Mr Payne zu und verließ dann sein Büro.

Whitechapel war verhältnismäßig friedlich. Harry nahm den üblichen Weg, die Commercial Street hinunter, dann nach links in die Wentworth Street und schließlich in die Old Montague. Er würde Zuhause etwas essen, denn sonderlich scharf war er nicht darauf, sich jetzt in ein Pub zu setzen. Um diese Zeit waren die kleinen Läden immer voll von Leuten, die sich billigen Gin kauften, miteinander stritten und sich betranken, um ihr schlimmes Leben zu vergessen.

Mrs Stubbs öffnete ihm nicht, als er anklopfte und Harry zog den Schlüssel, den er für den Notfall bekommen hatte, aus der Tasche. Er hakte ein wenig im Schloss, doch schließlich schaffte er es, ihn umzudrehen und die Tür öffnete sich knarzend. Im Treppenhaus brannte eine Lampe und Harry stieg die Treppe hinauf. Die Tür zu seinem Zimmer stand offen und er hielt inne. War jemand in seinem Zimmer, oder hatte er lediglich vergessen, sie zu schließen? „Mrs Stubbs?", sagte er leise und in seinem Zimmer fiel etwas um. Mit zwei schnellen Schritten hatte er den Raum betreten und erkannte seine Vermieterin, die am Fenster stand. Sie hielt ein Buch in den Händen und drehte sich ertappt zu ihm um. „Mr Styles, Sie sind schon zurück?", fragte sie und er nickte langsam. „Allerdings. Was haben Sie in meinem Zimmer zu suchen?"

„Ich habe sauber gemacht", sagte sie rasch. Zu rasch für seinen Geschmack. „Sie haben nichts hier drin zu suchen, wenn ich Sie nicht beauftrage, mein Zimmer zu reinigen", sagte Harry leise. Er zahlte Miete für das Zimmer, also war es seines und seine Vermieterin hatte darin nichts zu suchen. Neugieriges Weibsstück. „Ich gehe schon wieder. Verzeihen Sie." Eilig trippelte die alte Frau an Harry vorbei und schloss die Tür hinter sich. „Ich hätte gerne etwas zu essen!", sagte Harry laut, legte den Mantel ab und sah sich um.

Sie hatte tatsächlich sauber gemacht, das war deutlich zu sehen. Doch es ärgerte ihn über alle Maße, dass sie sich einfach so in sein Zimmer geschlichen hatte. Das stand ihr nicht zu. Vermutlich war sie eine der Frauen, die sich auch noch aktiv für das Frauenwahlrecht einsetzten. Das hatte Harry noch nie verstanden und er schüttelte den Kopf. Wieso waren Frauen immer so neugierig? Eine stand fest. Er würde Mrs Stubbs in Zukunft nicht mehr in sein Zimmer lassen und wenn es schmutzig war, dann reinigte er es selbst, immerhin war der Raum ja nicht groß und es sollte machbar sein.

Ziemlich kleinlaut brachte Mrs Stubbs ihm wenig später einen Teller mit Kartoffeln und gebratener Blutwurst. Er aß alles auf, dann legte er sich noch etwas hin.

Seinen Dienst trat er pünktlich um 22 Uhr an. Mr Anderson überreichte ihm auf der Wache seine Ausrüstung; eine Lampe, eine Trillerpfeife und einen Gummiknüppel, den er sich an den Gürtel schnallte. Harry verabschiedete sich von dem Kollegen und trat um 22:03 Uhr auf die nächtlichen Gassen von Whitechapel, um seine Route abzulaufen.

Diese führte ihn am Ten Bells vorbei in die Seitenstraßen Fournier Street, Brick Lane, Thrawl Street, bis vor zur Kreuzung von Commercial und Whitechapel High Street. Dann nahm er eine Parallelstraße zurück zum Ausgangspunkt und fing wieder von vorn an. Um die ganze Route laufen zu können, brauchte er fast 45 Minuten. Am Pub Ten Bells wechselte Harry die Straßenseite, um direkt am Pubeingang vorbeigehen zu können. Er würde auch hier nach dem rechten sehen müssen, denn je höher der Alkoholpegel war, desto eher kam es in dem kleinen Pub zu Schlägereien.

Gerade, als er die Tür passierte, flog sie auf und ein junger Mann stolperte heraus. Er schien betrunken zu sein und hatte den Arm um einen dunkelhaarigen Kerl gelegt. Sie lachten laut über etwas und Harry glaubte, in dem jungen Mann den Stricher zu erkennen, dessen Dienste er in Anspruch genommen hatte. Doch er war sich nicht sicher, dafür war es zu dunkel und das Licht aus dem Pub blendete ihn. „Komm, wir gehen, der dumme Ire kann mich mal", sagte der dunkelhaarige Mann und zerrte ihn mit sich, doch er rührte sich nicht. „Louis, was ist los?" Louis hieß er also. Louis starrte Harry an, wie einen Geist, doch sein Blick war glasig, weshalb nicht genau auszumachen war, ob er ihn wirklich erkannte, oder einfach nur in Gedanken versunken war. „Ich komme schon, Zayn", sagte dieser Louis und nun war Harry gewiss, dass er den Stricher vor sich hatte. Dessen Stimme war nämlich genauso rau und verhältnismäßig hoch gewesen.

Harry blieb stehen und sah den beiden nach, die die Straße hinunter wankten. Ob dieser Zayn ein Kunde von Louis war? Wenn dem so war, war es schockierend. Er wirkte so jung. Zu jung, um sich zu betrinken. Fast hätte er vergessen, dass er den Stricher dafür bezahlt hatte, ihn anzufassen, doch nun, da er ihm wieder begegnet war, musste Harry zwangsläufig daran denken, wie schön es sich angefühlt hatte.

Doch er durfte sich nicht allzu häufig dazu hinreißen lassen. Prostitution war illegal, wurde jedoch geduldet, wenn Frauen sie ausführten. Doch, wenn ein Mann diesem Gewerbe nachging und erwischt wurde, dann drohte ihm der Galgen. Soviel war sicher. Ein so junger Mensch sollte nicht gehängt werden und Harry konnte nur hoffen, dass Louis diesen Job nicht häufig machte.

Nur mühsam riss er sich vom Gedanken an das angenehme Gefühl los und konzentrierte sich wieder auf seine Route. Es war eine kühle Nacht und er sollte auf der Hut sein, wenn er sich hier in den dunklen Gassen herumtrieb. Die Lampe, die er dabei hatte, war schwach und der Lichtkegel reichte kaum aus, um die dunkelsten Ecken ausleuchten zu können. Deswegen musste er sich auf seine Ohren verlassen und durfte nicht in Gedanken versinken.

Je weiter er sich vom Pub entfernte, desto ruhiger wurde es und irgendwann begegnete er nur noch ab und zu jemandem. In manchen Straßen war es ganz still, in anderen konnte man noch die Geräusche der Hausbewohner hören. Irgendwo schrie ein Baby und die Kirchturmuhr schlug halb elf. Harrys Schritte hallten von den Wänden wider und er bog in die Brick Lane ab.

Hier war es normalerweise etwas lauter, doch heute schienen sich alle Bewohner ruhig zu verhalten. Wenn Harry Glück hatte - und darauf hoffte er - würde er eine ruhige Nachtschicht haben und gegen 4 Uhr am Morgen mit seiner Schicht fertig sein.

Doch er sollte sich irren.




Murder in the streetsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt