Harry:
Er öffnete die Augen und streckte sich einmal ächzend. Mittlerweile war es draußen dämmerig und auf der Straße wurde es stiller. Die meisten hatten sich in die Häuser zurückgezogen und bis Harry sich auf den Weg zu seiner Schicht machte, würden sicherlich nur noch wenige unterwegs sein.
Louis hatte sich sehr leise verhalten, sodass er jetzt wunderbar ausgeruht war. Harry setzte sich auf, sah sich im Zimmer um und erkannte sofort, warum Louis so still gewesen war: er war überhaupt nicht da!
Hastig zerrte Harry die Uhr aus der Westentasche, die über dem Kleiderbügel am Kamin hing und sah aufs Ziffernblatt.
Es war kurz vor sechs Uhr am Abend.
So lange konnte Louis doch unmöglich im Hof sitzen. Zügig schlüpfte er in seine Klamotten und befestigte die Hosenträger wieder am Bund der dunklen Stoffhose und schlüpfte in seine Schürstiefel. Er konnte unmöglich seine Nachtschicht antreten, wenn er nicht wusste wo Louis war, immerhin hatte er mehr oder weniger die Verantwortung für ihn übernommen.
Im Treppenhaus zog Harry die Jacke an und brachte mit schnellen Schritten die Stufen hinter sich. Bereits auf dem letzten Absatz sah er die Tür zum Hof offenstehen und die kalte Abendluft zog in den Hausflur.
„Louis?", fragte er und sah hinaus. Der Hof war klein und es gab keinen Bereich, der uneinsehbar war, sodass er lediglich einmal nach rechts und links sehen musste, um sich zu vergewissern, dass Louis nicht da war. „Verdammt", fluchte er und ging zurück.
Mit schnellen Schritten war er wieder oben an seinem Zimmer und stolperte dabei fast über die Waschschüssel und den Nachttopf, die neben der Tür standen und die er in der Eile eben vollkommen übersehen hatte. Hatte Louis etwa alles abgestellt und war dann wieder gegangen? Hatte er vielleicht nicht gewagt zu klopfen, weil er ihn nicht wecken wollte?
Harry öffnete die Tür, schob die Schüssel mit einem Fuß hinein und schloss das Zimmer wieder ab. Er hatte noch eineinhalb Stunden, bis seine Schicht losging, bis dahin musste er Louis gefunden haben.
Mr Payne würde ihn sonst mit Sicherheit lynchen.
Kopfschüttelnd, weil er nicht glauben konnte, dass Louis einfach gegangen war, trat er hinaus auf die Straße. Das Treiben wurde wie erwartet, bereits weniger. Ein ziemlich kalter Wind blies durch die Gasse und ließ seine Augen tränen. Harry zog den Kopf ein und gab sein Bestes, sie offen zu halten, damit er Louis nicht verpasste und mit jedem Schritt wurde er wütender.
Wie konnte man nur so leichtsinnig sein? Was hatte Louis sich dabei gedacht, einfach nach draußen zu gehen, wo er doch erst heute Morgen einen Mord beobachtet hatte? Ob er sich der Gefahr gar nicht bewusst war? Dachte er überhaupt an Morgen oder lebte er von einem Tag auf den anderen?
Vielleicht konnte man das auch gar nicht anders, wenn man jeden Tag auf der Straße um sein Überleben kämpfen musste. Man dachte nicht weiter, als bis zum nächsten Tag, denn schließlich wusste man ja nicht, ob man dann überhaupt noch am Leben war.
Zwei Männer mit Lederschürzen, die nach Blut und Kadavern rochen, gingen an ihm vorbei und er beschleunigte seine Schritte. Der Ripper war unsichtbar, was hieß, dass er von den normalen Menschen in Whitechapel optisch nicht zu unterscheiden war. Jeder Mann, den er passierte, könnte es gewesen sein und das machte die ganze Sache so unglaublich gefährlich.
Besonders für Louis.
In der Fournier Street endete Harrys Suche, denn er sah eine Gestalt, die sich langsam auf ihn zubewegte und erkannte Louis sofort. Erleichterung machte sich in ihm breit: er lebte!
„Louis!", rief er und eilte auf ihn zu. Louis blieb sofort stehen und Harry packte ihn am Arm, als er ihn erreichte: „Wieso bist du abgehauen? Ist dir nicht klar, wie gefährlich es hier draußen ist? Und wieso riechst du nach Gin?" Er fuhr ihn ziemlich hart an und ihm war auch klar, dass er Louis wehtat, weil er ihn so fest gepackt hielt, doch er konnte nichts daran ändern.
Er war schlicht und einfach stinksauer.
„Ich wollte einfach wieder raus...den ganzen Tag in dem Zimmer...", versuchte Louis sich rauszureden, doch Harry schüttelte den Kopf und zog ihn hinter sich her: „Du hast ja keine Ahnung", knurrte er zwischen zusammengebissenen Zähnen hindurch. „Ich bin für dich verantwortlich. Wenn dir etwas passiert, dann bin ich es der die Konsequenzen ziehen muss. Mr Payne hätte dich über Nacht in eine Zelle sperren lassen, damit du sicher bist, sei froh, dass du bei mir bleiben kannst, wo es ein bequemes Bett und einen Kamin gibt." Harry war klar, dass diese Argumentation so überhaupt keinen Sinn ergab, denn es klang so, als hätte man ihm Louis aufgedrängt, doch dem war ja gar nicht so gewesen. Er hatte schließlich angeboten, ihn bei sich aufzunehmen.
Trotzdem musste Louis verstehen, dass seine Sicherheit wichtig war. „Jetzt stellen Sie sich nicht so an. Ich kann meine Gewohnheiten eben nicht sofort umstellen."
„Ich dachte, zu sehen, wie schnell ein Leben beendet sein kann, hätte dir gezeigt, wie rasch sich das Blatt wendet. Du hast gesehen, dass der Ripper keine Gnade hat und bist trotzdem dumm genug, dich nachts draußen aufzuhalten."
„Ich hätte den Mann schon erkannt", protestierte Louis, doch das brachte Harry lediglich dazu, einmal zu schnauben: „Genau, das hättest du mit Sicherheit. Und weil ihn so viele erkannt haben, haben wir auch so viele genaue Beschreibungen der Männer, mit denen die Opfer das letzte Mal gesehen wurde. Man erkennt ihn eben nicht, das ist ja das Problem, Louis. Er ist einer von euch; er sieht vollkommen durchschnittlich aus. Nur so kann er ungesehen verschwinden und in der Menge untertauchen. Glaub mir, du hättest ihn erst erkannt, wenn er das Messer an deinem Hals angesetzt hätte."
Sie bogen um die Ecke in die Straße ein, in der Harry wohnte und Louis begann langsam zu jammern: „Sir, können Sie meinen Arm loslassen? Das tut weh."
„Wir waren beim Du, wenn ich dich freundlich darauf hinweisen darf", knurrte Harry, lockerte seinen Griff jedoch keineswegs. „Gerade ist mir nicht danach, das Du zu gebrauchen, wenn ich ehrlich sein soll", gab Louis zurück und klang gerade ziemlich eingeschüchtert. „Gut, dann eben nicht." Wenn Louis nicht wollte, dann sollte er ihn eben wieder mit Sir ansprechen.
„Ich nehme an, du hast schon etwas gegessen, wenn du im Pub warst?", fragte er, nachdem Louis sicher wieder im Zimmer angekommen war. „Nein, ich habe nur ein Glas Gin getrunken", antwortete Louis und setzte sich auf die vorderste Kante des Stuhls. „Gut, dann hole ich dir was zu essen und trete dann meinen Dienst an." Harry sah Louis noch einmal an, wartete darauf, ob vielleicht eine Entschuldigung kam, doch Louis blieb stumm. Er hatte den Kopf etwas gesenkt, die Lippen jedoch bockig aufeinander gepresst und seine Nasenflügel bebten. „Bis gleich", sagte Harry knapp und verließ das Zimmer.
So hart hatte er gar nicht sein wollen, dachte er, als er die Treppe wieder hinunter ging. Aber vielleicht brauchte Louis diese Ansage ja, um sich im Klaren darüber zu sein, wie gefährlich es wirklich war. Er war zu naiv und glaubte immer, dass es ihn schon nicht erwischen würde.
Doch das hatten Martha Tabram, Polly Nicols, Liz Stride und Catherine Eddowes sicherlich auch gedacht und was hatten sie nun davon?
Sie waren tot.
Kurz stellte sich Harry vor, wie Louis wohl aussähe, wenn er dem Mörder in die Hände fiel: wenn der Ripper sich von Tat zu Tat steigerte - was er bisher ja auch getan hatte - dann musste es dem nächsten Opfer wirklich schlimm ergehen. Er gab sich große Mühe, den Gedanken rasch wieder loszuwerden und kaufte für Louis eine Kartoffel und etwas Käse, sowie eine Zeitung, damit er lesen konnte. Wenn er das überhaupt jemals gelernt hatte. Harry fiel auf, dass er im Grunde nichts von Louis wusste und er nahm sich vor, ihn ein wenig auszufragen, wenn er sich beruhigt hatte.
Doch Louis war noch immer bockig, als Harry zurückkam und ihm das Essen auf den Tisch stellte. „Hier." Louis sagte nichts, sondern bedachte ihn lediglich mit einem kurzen Blick. „Ich bin heute in den frühen Morgenstunden wieder hier. Bis später", sagte Harry und ging wieder zur Tür. In der Hoffnung, Louis mochte sich vielleicht im letzten Moment doch noch aufraffen und eine Entschuldigung zustande bringen, trödelte er ein wenig, doch sein Gast gab keinen Mucks von sich, bis die Tür ins Schloss gefallen war.
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Murder in the streets
FanfictionEin Sergeant, wird nach Whitechapel versetzt um die Polizei dort zu unterstützen, die im Fall der ermordeten Martha Tabram ermittelt. Ein junger Mann kämpft sich durch den Alltag im East End und will eigentlich nur eines: zurück nach Hause. Doch da...