8.Oktober 1888 - Früher Morgen

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Harry:

„Gab es bei Ihnen etwas Verdächtiges, meine Herren?", fragte Harry, als sie um vier Uhr am Morgen ihre Schicht beendet hatten und sich alle im Revier versammelten. Es war seine Aufgabe, sich Bericht von jeder Gruppe Polizisten geben zu lassen. Eine lästige Arbeit, aber notwendig, damit keinerlei Information verloren ging, falls man im Nachhinein doch noch etwas wissen musste.

„Wir haben einen Streit zwischen einem Iren und einem Pakistani geschlichtet, die sich beinahe geprügelt hätten, doch ansonsten war es bei uns ruhig", berichtete der Polizist der zweiten Gruppe. „Gut, Sie können gehen", sagte Harry und die nächsten traten vor: „Sir, wir haben zwei Frauen wegen Trunkenheit in Gewahrsam genommen und mehrere Männer verwarnt, die vor der Christchurch auf der Wiese geschlafen haben."

So ging es weiter und Harry notierte sich rasch alle wichtigen Dinge, damit er morgen alles an Mr Payne weitergeben konnte, damit der wusste, was in der Nachtschicht so passiert war. Seine Augen waren schon ganz trocken, so müde war er, doch er trödelte. Sogar noch beim Umziehen. Wenn er ehrlich war, dann wusste er nicht genau, wie er sich Louis gegenüber verhalten sollte, wenn sie sich wieder sahen.

Er war zu grob zu ihm gewesen und Louis hatte seinetwegen geblutet. Das war nie seine Absicht gewesen und er bereute es, schwach geworden zu sein. Im Grunde unterschied er sich nun nicht mehr von dem Freier mit dem er Louis gemeinsam gesehen hatte. Er war nur auf seine eigene Befriedigung aus gewesen und hatte sich wie ein Monster verhalten.

Sein eigenes Verhalten widerte ihn an.

Schließlich war er der Letzte im Revier und zog sich die Uniform aus. Länger konnte er es jetzt nicht mehr hinauszögern, sonst würde er womöglich Mr Payne noch über den Weg laufen, der ihn dann gleich für die Frühschicht dabehielt und das ging nicht. Er brauchte dringend Schlaf.

Bevor Harry in seine Straße einbog, betrat er noch schnell eine kleine Bäckerei, die sich an der Ecke befand und kaufte ein Brot, damit Louis etwas essen konnte. Der Laib war zwar klein und noch warm und Harry presste die kalten Hände gegen die wärmende Kruste. Je näher er dem Haus kam, desto nervöser wurde er und als er im Treppenhaus stand, nahm er eine Stufe nach der anderen und wurde immer langsamer.

Als er endlich vor seiner Zimmertür stand, war er so nervös, dass seine Hand so sehr zitterte, dass der Schlüssel im Schloss ein lautes Klappern von sich gab. „Mist", fluchte Harry und schob die Tür leise auf. Im Zimmer war es dunkel, nur die Glut im Kamin gab einen warmen Lichtschein ab. Leise schloss Harry die Tür und ging auf Zehenspitzen zum Fenster, um es zu öffnen. Klare Morgenluft waberte herein und strich ihm sanft ums Gesicht. Nachdenklich blieb er am Bett stehen und sah auf Louis hinunter, der ihm zugewandt dalag und schlief.

Seine Augen waren geschwollen und Tränenspuren zeichneten sich auf seinen Wangen ab. Zusammengekauert, wie er so da lag, sah er unglaublich verletzlich aus. Ohne ein Geräusch zu verursachen, schloss Harry das Fenster wieder und ließ den Riegel einrasten, dann zog er sich bis aufs Hemd aus und ging vor dem Bett in die Hocke. „Hm...", machte Louis, als er ihm sachte über die Schulter strich und öffnete blinzelnd die Augen. „Darf ich mich zu dir legen, Louis?", fragte er leise und sie sahen sich einen Moment lang an. In Louis Blick eine Traurigkeit, die ihn direkt ins Herz traf und sofort tat ihm sein Verhalten noch mehr Leid. Louis holte tief Luft und sagte etwas heiser: „Es ist dein Bett...solange du mir nicht wehtust..."

Er hatte ihm wirklich Schmerzen bereitet, genau was Harry befürchtet hatte. Sofort brannte sich die Schuld durch seinen Körper und er sagte schnell: „Louis, ich wollte das nicht. Bitte entschuldige...ich wollte das nicht."

„Du hast es aber getan", flüsterte Louis und wischte sich über die Augen. Obwohl es dunkel im Zimmer war, wusste Harry, dass er weinte. „Louis, bitte...ich weiß nicht, was da in mich gefahren ist...das hätte nie so werden dürfen. Glaub mir, ich wollte nie so sein. Wirklich...bitte, du musst meine Entschuldigung annehmen..."

Murder in the streetsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt