29.September 1888 - Morgen

1.9K 408 132
                                    

Harry:

Heute war Louis nicht erschienen, obwohl er sonst immer pünktlich war, wenn er bei ihm aufräumen sollte.
Das beunruhigte Harry und er hatte sich bereits auf dem Weg zur Arbeit eine Zeitung gekauft und diese gründlich nach einem weiteren Mord durchforstet, doch nichts gefunden. Im Grunde war er auch ziemlich sicher, dass Mr Payne vorbeigekommen wäre, wenn man wieder eine Leiche gefunden hätte.

Trotzdem hatte er ein mulmiges Gefühl und hielt beim Weg zum Polizeirevier Ausschau nach Louis. Doch er konnte ihn nirgendwo entdecken.

Dementsprechend besorgt kam er auf der Polizeistation an, wo eine äußerst gespannte Stimmung herrschte. Das konnte niemand verhindern, denn in den letzten Tagen hatten sie äußerst viele Rückschläge einstecken müssen: Mr Malik war entlastet worden und auch die Untersuchungen der anderen Verdächtigen hatte zu keinem nennenswerten Ergebnis geführt.

Sie standen also wieder am Anfang und die Presse kommentierte natürlich alles in ihren täglichen Ausgaben.

Die heutige Ausgabe hatte eine äußerst treffende, aber sehr schmerzhafte, Karikatur der Whitechapel Police abgedruckt. Sie zeigte einen Polizisten, der sich mit verbundenen Augen, wie die blinde Kuh, durch eine Straße tastete, während sich alle Gauner und Ganoven kichernd unter den tastenden Fingern wegduckten.

Eben diese Ausgabe lag ausgebreitet im Büro von Mr Payne auf dem Schreibtisch. Die Kollegen der Station saßen um den Tisch herum und sahen alle missmutig zu ihrem Chef auf, der laut eine Zeile vorlas: „'Die Whitechapel Police unter der Leitung von Mr Payne ist wohl die Dümmste in ganz London!' Das kann so nicht sein, werte Kollegen!" Mr Payne schrie so laut, dass alle Anwesenden zusammenzuckten und schlug mit der flachen Hand fest auf den Tisch. Grimmig sah er in die Runde: „Es kann doch nicht sein, dass wir keinerlei Hinweise haben." Fast schon verzweifelt ließ er sich auf seinen Platz sinken und sah die Kollegen so bittend an, als hoffte er, Jemandem würde plötzlich der entscheidende Hinweis einfallen.

Doch keiner sagte etwas. Dann sagte der Kollege Neil vorsichtig: „Wir könnten nochmal alle Aussagen über..."

„Wie soll uns das weiterbringen?", schnaubte Mr Payne, „Es ist sinnlos!" Er sah aus, als würde er gleich anfangen zu weinen. „Die Chefetage sitzt mir im Nacken, verlangt Ergebnisse und wir treten auf der Stelle. Ich habe jetzt Hilfspolizisten einstellen lassen, die uns auf der nächtlichen Streife unterstützen werden. Ab Morgen laufen pro Nacht fünfzehn Leute ganz Whitechapel ab."

In dem Moment klopfte es an der Tür und Mr Payne unterbrach sich. „Ja bitte?"

„Sir, hier ist jemand von der Central News Agency für Sie", sagte der Kollege Higgings. „Soll reinkommen", forderte der Detective Inspector und Higgings verschwand.

„Sie wollen einen von der Zeitung hier reinlassen, Sir?", fragte Harry und sah seinen Chef zweifelnd an. In seinen Augen verursachte die Presse nichts als Ärger und sie hier im Revier in einen Besprechungsraum zu lassen, schien ihm nicht sonderlich sinnvoll zu sein. „Vielleicht hat er uns etwas Wichtiges mitzuteilen", brummte Mr Payne und als die Tür aufging und ein ernst blickender Mann eintrat, wandten sich ihm alle zu.

„Sir, Entschuldigen Sie, dass ich einfach so hier hereinspaziere, aber bei uns ging heute Morgen ein Brief ein, der Sie und Ihre Kollegen sicherlich interessiert", sagte der Mann respektvoll und zog einen kleinen, gelblichen Brief aus der Innentasche seines Anzuges. Er reichte ihn Mr Payne mit einem Kopfnicken und trat dann respektvoll einen Schritt zurück. „Wir haben ihn gelesen und dachten zuerst, es handele sich um einen schlechten Scherz, da in der letzten Zeit sehr häufig Briefe bei uns eingehen, die angeblich vom Mörder stammen. Doch dieser hier könnte echt sein. Wir können nicht sagen, wieso, aber der Wortlaut erschien uns glaubhaft." Unsicher schob der Mann der Central News Agency die Hände in seine Taschen und Mr Payne warf ihm einen prüfenden Blick zu. „Was genau ist es am Wortlaut, das Ihnen glaubhaft vorkam?"

Murder in the streetsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt