9.November 1888 - Mittag

2.2K 465 351
                                    

Die Sonne schien, allerdings waren die Strahlen zu schwach, um wirklich Wärme zu spenden.

Harry ging mit gesenktem Kopf durch die Menschenmengen hindurch und fühlte sich so schwer, als müsste er Louis verhaften.

Der Ripper hatte es geschafft, in einem sicheren Zimmer zu morden und er wusste, dass Louis bei ihm schlief, war sogar schon ins Haus hinein gekommen. Wenn Harrys Theorie stimmte, die er sich zusammengereimt hatte, könnte der Ripper den Mord an Louis geprobt haben. Er musste den einzigen Zeugen, den es gab, aus dem Weg schaffen und nun hatte er eine Möglichkeit gefunden, wie es gehen könnte.

Er musste unbedingt schneller sein.

Auch wenn es bedeutete, dass er Louis nicht mehr wieder sehen würde. Diese Entscheidung fiel ihm ganz und gar nicht leicht und Harrys Herz wurde mit jedem Schritt schwerer. Die Anwesenheit Louis' war so angenehm und er war gerne bei ihm, hatte ihn gerne bei sich. Aber Louis war nicht mehr sicher. Sogar er selbst war nicht mehr sicher. Noch heute würde er aus dem kleinen Zimmer ausziehen, damit der Mörder es leer vorfinden würde, sollte er sich wirklich Zugang ins Haus verschaffen. Sie mussten beide verschwinden - heute noch.

Harry überquerte die Hauptstraße und als er das Pub an der Ecke sah, blieb er kurz stehen. Wie sollte er Louis sagen, was los war? Sicherlich bekam er Angst, wenn er zu ehrlich war. Oder? Nachdenklich strich er sich übers Gesicht und befeuchtete die Lippen mit der Zunge. Ein Mann, der besonders griesgrämig dreinblickte, fiel ihm auf und er dachte an den Kerl im Treppenhaus.

Jetzt war nicht die Zeit für Gefühle und Befindlichkeiten.

Mit starrem Blick auf den Eingang des Ten Bells lief er los und wäre beinahe vor eine Kutsche gelaufen, wenn der Kutscher nicht laut gerufen hätte. Rasch sprang er zurück auf den Bürgersteig und ging dann nach der Kutsche über die Straße.

Im Pub war es noch recht leer und er ging direkt auf den Tresen zu, wo der Barmann stand. „Guten Tag, Sergeant Styles von der Metropolitan Police", sagte er mit achtungsheischender Stimme und der Barmann sah erschrocken drein. „Sir, was kann ich für Sie tun?", fragte er und Harry sagte: „Sie beschäftigen einen Mr Tomlinson?"

„Ja Sir, er ist hinten."

„Ich muss ihn mitnehmen."

„Hat er was ausgefressen, Sir?"

„Nein, im Gegenteil, aber genaueres kann ich Ihnen jetzt nicht sagen, ich hoffe, Sie verstehen das. Darf ich ihn holen?", fragte er und nickte zur Tür des Hinterzimmers hin. Der Barmann ruckte mit dem Kopf und ließ ihn hinter die Theke.

„Louis", sagte Harry laut und der junge Mann zuckte zusammen. Er hatte mit dem Rücken zu ihm gestanden und ihn nicht kommen hören. „Harry, was machst du denn hier?", fragte er und sah ihn argwöhnisch an. „Komm mit. Du musst hier weg. Ich muss dich mitnehmen."

„Was? Wieso?", fragte Louis und schüttelte den Kopf: „Das geht nicht, ich muss jetzt arbeiten."

Harry hatte ihm nicht erklärt, was los war, deswegen verstand Louis den Ernst der Lage natürlich nicht, doch ungeduldig und voller Angst, wie Harry im Augenblick war, vergaß er, ihm die Sachlage zu erklären. Stattdessen packte er ihn am Arm und zerrte ihn ziemlich grob zur Hintertür hinaus in den Hof und dann auf die Straße.

„Was soll das denn? Lass mich los!", protestierte Louis lautstark und wand sich aus Harrys Griff.

„Nein, du kommst jetzt mit." Mit diesen Worten packte Harry Louis erneut am Arm und zerrte ihn in den nächsten Hauseingang. „Was ist denn los? Wieso bist du so grob?", fragte Louis und machte sich erneut los. Er rieb sich den Arm und sah Harry an, als sei er vollkommen irre.

Murder in the streetsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt