1.Oktober 1888 - Nachmittag

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Louis:

Er hatte den ganzen Tag geschlafen und es hatte unglaublich gut getan. Zweimal war Louis wach geworden, weil er auf den Nachttopf gemusst hatte, doch hatte sich danach gleich wieder hingelegt. Harry hatte das Fenster offen gelassen und er hörte das Treiben auf der Straße.

Bisher war ihm nie aufgefallen, wie laut es eigentlich draußen war - schließlich war er bisher ein Teil des Treibens gewesen. Wie ungewohnt es war, tagsüber aus einem Fenster zu blicken. Bisher war er immer nur nachts in einem Bett gelegen. Sobald der Morgen angebrochen war, hatten alle das Gebäude verlassen müssen und heute hatte er den ganzen Tag gelegen. Zwar war er noch immer ziemlich erschlagen, doch er hatte den Tee trinken können, den Harry ihm heute Morgen gemacht hatte, ohne sich übergeben zu müssen. Das war ein gutes Zeichen.

Das Bett des Polizisten war bequem und Louis drehte sich auf den Bauch und reckte ein wenig den Hals, um besser aus dem Fenster sehen zu können. Zwischen den vielen Menschen stach eine Person besonders heraus und als er Harry erkannte, zog sich in ihm alles nervös zusammen. Rasch setzte er sich auf und tappte mit wackeligen Schritten zum Waschtisch hinüber.

Dort hing ein kleiner Spiegel und er besah sich kurz darin. Sein Bart war zottelig und deutlich zu lang, weil er keine Schere besaß und ihn deswegen nicht nachschneiden konnte. Auf Harrys Waschtisch lag eine kleine Schere und Louis zögerte. Sollte er sie einfach nehmen? Immerhin war sie Harrys Eigentum, doch auf der anderen Seite konnte er ja auch schlecht das Zimmer verlassen, um sich beim Friseur rasieren zu lassen - das Geld dazu hatte er sowieso nicht. Also griff er doch zu und kürzte vorsichtig die Zotteln. Büschelweise braunes Haar landete in der Waschschüssel und als der Schlüssel in der Tür klickte, sah Louis fast aus, wie ein neuer Mensch. Durch den Spiegel sah er Harry, der eintrat und sich seufzend auf den erstbesten Stuhl sinken ließ. „Hallo", sagte Louis und wandte sich zu ihm um. „Hallo, Louis. Wie fühlst du dich. Du stehst ja schon viel besser aus", sagte Harry und lächelte müde. „Mir geht es besser...ich habe mir gerade erlaubt, deine Schere zu benutzen, ich hoffe du bist nicht böse."

Harry schüttelte seufzend den Kopf: „Wieso sollte ich. Ich habe dich ja hier eingesperrt, da sollte ich dir das ja auf jeden Fall gestatten." Er sah sehr müde aus und rieb sich die Schläfen. „Es war anstrengend heute, bitte entschuldige, dass ich nicht sonderlich gesprächig bin, aber ich muss jetzt ein wenig schlafen, weil ich heute wieder die Nachtschicht machen muss. Nachdem was gestern passiert ist, müssen wir noch mehr Präsenz zeigen, als ohnehin schon." Louis nickte langsam und wusste nicht so genau, was er darauf jetzt sagen sollte. Ihm fehlten die Worte und er sah Harry nur an, der gähnte und aufstand. „Ich werde mich ein wenig hinlegen, damit ich heute Abend durchhalte." Louis nickte und sah zum Fenster. Noch war es hell draußen.

„Könnte ich vielleicht ein wenig nach draußen gehen? Es ist ja noch nicht dunkel und ich will ein wenig an die frische Luft." Wie seltsam es war, Harry um Erlaubnis zu fragen. Er kam sich dabei vor, wie ein kleiner Junge. Harry hatte bereits die Hälfte seiner Hemdknöpfe geöffnet und sah ihn unschlüssig an, dann seufzte er und sagte leise: „Louis, du weißt, dass ich dich hier nicht einsperren kann. Ich kann dir auch nicht verbieten, rauszugehen."

Natürlich wusste Louis das genau und er wollte Harrys Gastfreundschaft auch nicht mit Füßen treten, indem er sich jetzt einfach wieder hinaus auf die Straße begab, wo ihm vielleicht Gefahr drohte. „Ich will nur kurz in den Hinterhof, da kann ich den Nachttopf auskippen und frisches Wasser holen", sagte Louis leise und sah den Polizisten bittend an: „Na gut, bis gleich", sagte Harry und fuhr fort, sich auszuziehen. Mit dem Nachttopf und der Waschschüssel, sowie dem Krug, ging Louis aus dem Zimmer und durchs Treppenhaus nach unten in den Hinterhof.

Wieder frische Luft zu atmen, tat gut, nachdem er den ganzen Tag in diesem Zimmer gelegen hatte. Obwohl er noch immer wackelig auf den Beinen war, blieb er stehen, legte den Kopf in den Nacken und sah hinauf zum Himmel, der sich schon dunkel gefärbt hatte. Die anderen waren jetzt sicherlich im Pub. Obwohl er froh war, in einem Bett hatte schlafen zu können, musste er zugeben, dass er den abendlichen Pubbesuch vermisste.

Unschlüssig stand er an der Wasserpumpe, nachdem er den Nachttopf und die Waschschüssel ausgespült und den Krug nachgefüllt hatte und sah zur Tür. Sie führte sowohl ins Treppenhaus, als auch zur Haustür. Und immerhin war es noch nicht dunkel genug, als dass der Ripper ihn erwischen könnte, oder nicht? Wenn er von hier aus in das nächste Pub ging, wäre er ja nicht lange auf der Straße und vielleicht traf er ja Zayn oder Niall. Langsam, und ohne recht darüber nachzudenken, was er tat, stieg er die wenigen Steinstufen zur Tür hinauf. Ohne ein Geräusch zu verursachen stellte er die Schüsseln bei Harry vor der Tür ab und ging dann leise die Treppe hinunter. Er musste einfach raus.

Sein Herz klopfte nervös, als er wieder hinaus auf die Straße trat, sich kurz umsah und dann davon huschte. Es war leichtsinnig, was er gerade tat, das wusste er und jeder Mann, der ihm entgegen kam, erschien ihm unheimlich, doch er konnte nichts daran ändern, dass der Trieb, nach draußen zu gehen, einfach stärker war.

Ein letzter Blick hinauf zum Fenster von Mr Styles zeigte ihm, dass der sicherlich schon schlief, zumindest brannte kein Licht mehr. Louis drückte sich an die Wand und huschte weiter die Straße entlang zur nächsten Straßenecke. Zum Ten Bells war es nicht allzu weit.

Dass die Angst nun auch endgültig in der Bevölkerung angekommen war, zeigte sich deutlich am Verhalten der Leute. Männer standen in Grüppchen beisammen und Frauen sah man auch nur noch unter Laternen oder in den Eingängen der Pubs. Sicherlich wagten sie sich nicht mehr in die dunklen Ecken vor. Und davon gab es in Whitechapel leider viel zu viele. Jede schmale Gasse, jeder dunkle Hauseingang und jeder Hinterhof war ein potentieller Tatort.

Im Ten Bells war es sehr viel voller, als normalerweise und man kam kaum bis zur Bar durch. Alle standen dicht an dicht und lauschten George Lusk, der auf einem Tisch stand und weitere Leute für eine Bürgerwehr zu mobilisieren versuchte. Louis reckte den Hals und versuchte Lederschürze zu entdecken, doch der schien nicht da zu sein. Und selbst wenn, dann würde er ihn heute sicherlich nicht angreifen, immerhin war das Pub voll und Zeugen ungern gesehen.

„Louis!", rief eine Stimme und er drehte sich um. In einer Ecke saß Zayn gemeinsam mit Niall und dieser Eleanor an einem Tisch. Louis nickte ihnen zu und schob sich dann in ihre Richtung. „Wie geht es dir? Du scheinst die Krankenstube ja lebend wieder verlassen zu haben", freute sich Zayn und musterte ihn. „Ja, lebend, aber arm, wie eine Kirchenmaus. Du musst mir was leihen. Du schuldest mir sowieso noch Geld." Zayn verdrehte die Augen, vermutlich hatte er darauf gehofft, Louis hätte es vergessen. Doch Louis vergaß nicht, wenn es um Geld ging und so blieb er am Tisch stehen und streckte erwartungsvoll die Hand aus. „Ich hab nichts, man", jammerte Zayn und sah ihn bittend an, doch Louis kannte ihn mittlerweile gut genug und schnippte lediglich ungeduldig mit den Fingern. Zayn gab nach und fingerte eine Münze aus seiner Tasche, die er Louis mit den Worten: „Hier, du Halsabschneider", in die Hand legte. „Danke mein Lieber", sagte Louis grinsend und drehte sich um.

Wenig später hatte er ein Glas Gin vor sich stehen und nach dem ersten Schluck tat es ihm irgendwie auch gar nicht mehr leid, dass er gegangen war. Auch wenn er ein besseres Leben wollte, tat er sich einfach schwer von heute auf morgen nicht mehr in die Pubs zu gehen und draußen auf der Straße zu sein. Natürlich war das Leben unglaublich schwer und er würde alles dafür geben, endlich ein wenig sorgenfreier zu leben, doch bereits einen Tag lang im Zimmer des Polizisten eingeschlossen gewesen zu sein, hatte er sehr hart gefunden. Ein Leben plötzlich gegen ein anderes einzutauschen war nicht leicht, auch wenn es ihm bei Harry Styles vielleicht wirklich besser gehen würde.

Louis nahm noch einen Schluck Gin und leckte sich die Lippen. „Hast du den Bart geschnitten?" Niall sah Louis mit schiefgelegtem Kopf an und schob sich die Mütze ein Stück weiß aus der Stirn und zog die Augenbrauen hoch. „Ja, ich hab gedacht, er ist doch ein bisschen lang geworden", sagte Louis und strich sich nachdenklich durch den Bart. „Wo hast du das gemacht? Du hast doch gar keine Schere?"

„Ich hab mir eine geliehen", sagte Louis lässig. Er würde nicht erzählen, dass er bei dem Polizisten untergekommen war, auf den Zayn nicht gut zu sprechen war.

Gegen 7 Uhr am Abend verließ Louis das Pub wieder. Er hatte sich nur diesen einen Gin genehmigt und das reichte auch vollkommen aus. Langsam und mit aufmerksamem Blick in die dunkler werdenden Ecken, ging Louis zurück zur Wohnung von Mr Styles. Erst jetzt auf dem Rückweg fragte er sich, ob es so eine gute Idee gewesen war, einfach zu gehen.

.-.-.-.
Oh ich glaube, Harry wird sauer sein...
Falls es auch hier Schwarzleser gibt: bitte das Sternchen nicht vergessen;)
LG

Murder in the streetsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt