9.November 1888 - Morgen

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Harry:

Etwas strich sanft über seine Wange und im Halbschlaf zuckte er leicht zusammen. Ein leises Lachen drang an sein Ohr und der Finger streichelte erneut über seine Haut. „Louis...", nuschelte er und schüttelte sich, weil es kitzelte. „Lass das..."

„Nein, ich will aber nicht", entgegnete der junge Mann und Harry schlug die Augen auf. Louis hatte den Kopf auf den Arm gestützt und lächelte ihn an. Seine Haare waren noch vollkommen durcheinander und die Augen klein. Er konnte auch erst gerade eben aufgewacht sein.

„Guten Morgen", krächzte Harry und streckte sich. „Wie geht es dir?", fragte er und rieb sich den Schlaf aus den Augen. Gestern war er nochmal zu seiner Schicht aufgebrochen und sie hatten nicht mehr miteinander sprechen können, weil Louis geschlafen hatte, als er wieder da gewesen war.

Harry hatte nicht gleich einschlafen können, sondern war lange neben Louis gelegen und hatte ihn beobachtet, unsicher, ob er ihn wecken sollte. Was, wenn er doch wieder zu grob gewesen war? Nie hätte er sich verzeihen können, wenn das noch einmal vorkäme.

„Was meinst du?", fragte Louis leise und erwiderte seinen Blick vollkommen ruhig. „Hab ich dir wieder weh getan?", wagte es Harry auszusprechen und Nervosität machte sich in ihm breit. Zu seiner Erleichterung schüttelte Louis den Kopf und lächelte sogar. „Nein, es war schön...es war irgendwie ganz anders, als bisher. Zum ersten Mal habe ich mich wirklich wohl dabei gefühlt." Verlegen lächelte er und blinzelte, als wollte er vermeiden, dass ihm die Tränen kamen. „Du glaubst gar nicht, wie froh mich das macht", gab Harry zu und umfasste Louis Gesicht vorsichtig mit den Händen. „Musst du eigentlich heute nicht arbeiten?", fragte Louis und Harry schüttelte den Kopf: „Nein, ich habe heute frei."

„Das ist schön. Vielleicht können wir heute gemeinsam etwas unternehmen...vielleicht ein bisschen an die Docks gehen, was meinst du?", schlug Louis vor und Harry nickte: „Gerne. Wenn es nicht allzu kalt ist. Immerhin haben wir November und an den Docks wird der Wind ziemlich rau sein." Vorsichtig drückte er Louis einen Kuss auf die Stirn und der junge Mann schloss die Augen bei der Berührung. Es war wundervoll und vollkommen surreal.

Und falsch. Vollkommen falsch und unangebracht.

Das wurde Harry schmerzlich bewusst, als Louis seine Hand nahm und sie ihren Fingern dabei zusahen, wie sie einander sanft berührten. Louis' Hände waren rau und die Arbeit der vielen Jahre hatte dunkle Male und Narben auf seiner Haut hinterlassen. Seine Hand hingegen war fast makellos. Vorsichtig fügten sich ihre Hände zusammen, wie zum Gebet und Harry ballte die Faust, hielt Louis fest und lächelte zufrieden. Louis erwiderte das Lächeln und küsste ihn sanft auf die Schläfe.

Nie hatte er sich wohler gefühlt.

„Mr Styles!" Es klopfte hart an der Zimmertür und die beiden fuhren auseinander. „Los, versteck dich unter dem Bett", zischte Harry rasch und stand hastig auf. „Weshalb?", fragte Louis ebenso leise. „Mr Payne weiß nicht, dass du noch bei mir schläfst...bitte stelle keine Fragen, sondern tu jetzt was ich sage." Louis rutschte aus dem Bett und robbte rasch unter das Bettgestell. Harry schlüpfte in das erstbeste Hemd und öffnete dann die Tür. „Mr Payne...ich habe heute meinen freien Tag", sagte er, doch als er das Gesicht seines Chefs sah, wusste er, dass aus dem freien Tag heute nichts wurde. Mr Paynes Miene war versteinert und er sagte: „Es gab einen Mord...in der Dorset Street. Haben Sie gefrühstückt?"

„Nein, Sir."

„Gut, dann sollten Sie das auch lieber lassen. Mir wurde mitgeteilt, dass es ein kaum auszuhaltender Anblick sein muss. Ziehen Sie sich an, ich warte unten auf Sie."

Harry schloss die Tür und drehte sich zu Louis um, der unter dem Bett hervor gekrochen kam. „Wieder ein Mord?", fragte er leise und Harry nickte. Sein Magen fühlte sich taub und unwohl an. Er hatte es immer gewusst. „Mir scheint, aus unserem Ausflug heute wird nichts", sagte er und zog sich an. Louis nickte, seine Miene mindestens genauso ernst, wie die von Mr Payne. „Dann bleibe ich wohl besser hier, oder?"

Murder in the streetsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt