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Spinell

Verdutzt schaue ich Kohaku an. Hat er das gerade wirklich gesagt oder war das Einbildung?
"Jetzt tu mal nicht so überrascht", murmelt er, während seine Wangen rot anlaufen, "War doch von der ersten Sekunde an klar."
"Wie meinst du das?" Mit diesem Satz hat er meine Neugier geweckt.
"Hier, zieh den erst mal an", sagt Kohaku, zieht sich seinen Pullover über den Kopf und reicht ihn mir. Widerwillig ziehe ich ihn an, bin aber froh, dass er ihn mir gegeben hat. Obwohl er ungefähr zehn Größen zu groß ist.
Erst als ich Kohaku wieder ansehe, bemerke ich seine zerzausten Haare und muss schmunzeln.
"Was ist so witzig?"
"Ach gar nichts", sage ich und greife nach seinem dunklen Haar. Es fühlt sich weicher an, als gedacht.
"Normalerweise darf niemand meine Haare anfassen."
"Es gibt für alles ein erstes Mal", meine ich nur und richte seine Haare so gut ich kann.
"Und, sehe ich jetzt besser aus?"
"Unwiderstehlich." Plötzlich wird mir wieder bewusst, wie nah wir uns eigentlich sind und ich weiche reflexartig einen Schritt zurück. "Tut mir leid", flüstere ich und will noch mehr Abstand aufbauen, doch Kohaku packt mich am Handgelenk und hält mich fest.
"Mir aber nicht", sagt er und zieht mich ruckartig zurück. "Und dir eigentlich auch nicht, oder?"
Zu perplex um zu antworten, starre ich einfach nur auf den Boden.
"Sieh mich an und sag mir, dass du das hier nicht willst", sagt er.
Ich hebe meinen Blick und sehe in seine blauen Augen. Wenn mir der Alkohol keinen Streich spielt, dann spiegeln seine Augen Sehnsucht und Einsamkeit wieder.
Wie könnte ich dich nicht wollen?
Aber wenn ich ihn an mich heranlasse, steht er in direkter Schusslinie und macht uns verwundbar. Ich muss mich zur Sicherheit weitestgehend von allem und jedem abgrenzen.
Andererseits kann ich nicht zulassen, dass jemand anderes mein Leben kontrolliert. Kohaku ist stark und er wird doch auch wissen, worauf er sich einlässt. Oder?
"Mach dir doch nicht immer so viele Gedanken. Entspann dich einfach."
"Du hast gut reden. Ich kann mich nicht mal konzentrieren wenn du mich nur ansiehst, geschweige denn wenn du nur wenige Zentimeter von mir entfernt stehst. Und wenn ich dann noch deinen heißen Atem auf meiner Haut spüren kann, dann kommt es gelegentlich schon mal vor, dass ich keinen Ton herauskriege!", platzt es aus mir heraus. Jetzt bin ich diejenige, die rot anläuft.
"War das jetzt ein Kompliment oder ein Vorwurf?"
"Weiß ich selbst nicht", sage ich und meide beschämt den Blickkontakt. Jetzt wäre ich bereit für einen spontanen Blitzeinschlag.
"Oh man", seufzt Kohaku lachend und drückt mich an sich, "Genau das bringt mein Herz zum glühen."
"Meins explodiert eher", gebe ich zu und beiße mir auf die Zunge. Habe ich das gerade wirklich laut gesagt?
"Ich mag es, wenn du betrunken bist", sagt er und küsst mich auf die Stirn.
"Und ich hasse dich."
"Harte Worte, ich bin zutiefst verletzt." Bevor ich reagieren kann, umgreift Kohaku meine Oberschenkel und zieht mich mühelos nach oben. Jetzt habe ich keinen Fluchtweg mehr.
"Lass mich runter", verlange ich und versuche mich aus seinem Griff zu winden, aber er ist einfach zu stark.
"Erst, wenn du mir ehrlich sagst, was du von mir hältst", fordert er und lächelt mich triumphierend an.
"Das ist unfair!"
"Ich hab dir auch gesagt, wie ich über dich denke. Jetzt will ich auch wissen, woran ich bei dir bin."
Meine Gedanken überschlagen sich.
Tja, was ist er eigentlich für mich?
Ein Bekannter? Verbündeter? Freund?
Aber etwas in mir schreit förmlich nach mehr als alldem. Unsicher beiße ich mir auf die Unterlippe.
Warum stelle ich mich so dämlich an und bin obendrein noch unehrlich? Er hält mich auf den Armen und will einfach nur wissen, was er für mich ist. Wieso bringe ich keinen Ton heraus?
Aber jetzt gar nicht zu reagieren wäre gemein und ziemlich schwach von mir.
Ich atme tief durch und beuge mich zu ihm vor, sodass erneut unsere Lippen aufeinander treffen. Allerdings nicht so zaghaft wie zuvor. Viel fordernder. Ich greife in seine Haare und halte mich daran fest.
Langsam verfliegt die Anspannung und macht körperlichem Verlangen Platz. Unser Atem wird fühlbar schwerer und ich spanne unbewusst meine Beine an, die ich um Kohaku gelegt habe.
Als Kohaku das bemerkt, nutzt er die Gelegenheit und schiebt seine rechte Hand zögerlich unter den Saum des Pullovers. Als er dann vorsichtig unter mein T-Shirt fasst und seine kalten Finger meine Haut berühren, zucke ich leicht zusammen. Gänsehaut breitet sich aus und mit jedem Zentimeter, den er seine Hand nach oben schiebt, drückt sich mein Rücken weiter durch.
Es ist, als wäre die Zeit zwischen uns stehen geblieben. Wie lange stehen wir schon hier?
Sekunden?
Minuten?
Schaut uns irgendjemand zu?
Werden wir beschattet?
Tausende Fragen schießen mir durch den Kopf, aber durch Kohaku seine Anwesenheit erscheinen sie mir alle so irrelevant, dass ich nicht weiter darauf eingehe.
Irgendwann müssen wir voneinander ablassen, wenigstens um kurz durchzuatmen.
Unsere Blicke treffen sich und ich kann nicht anders, als wie ein Idiot zu grinsen. Allerdings bin ich nicht die einzige die grinst, denn auch Kohaku steht die Freude ins Gesicht geschrieben.
"Ist deine Frage beantwortet?" Er  nickt nur und lässt mich runter. Einige Sekunden vergehen, in denen keiner von uns etwas sagt.
"Ich habe dich noch nie so lange am Stück lächeln sehen", durchbricht Kohaku die Stille. "Steht dir viel besser als die traurige Miene."
"Kann ich nur zurückgeben", sage ich und versuche dabei nicht allzu dämlich auszusehen. "Wollen wir wieder rein gehen? Deine Finger sind schon ganz kalt."
"Ist mir egal, solange ich bei dir sein kann", antwortet er und beugt sich zu mir runter. Zaghaft umfasst er mein Kinn und küsst mich.
"Da sind die zwei Turteltauben ja!", höre ich plötzlich Aria ihre Stimme. Erschrocken unterbrechen wir den Kuss und starren Aria an, die ihr Handy in der Hand hält.
"Macht ruhig weiter, ich nehme es nur auf, für den Fall, dass ihr euch nicht erinnern könnt. Und damit ich es posten kann natürlich", kichernd hält sie sich die Hand vor den Mund.
"Schickst du es mir morgen früh?", fragt Kohaku.
"Klar, wenn es dir nichts ausmacht?", sagt Aria an mich gewandt und wartet offensichtlich auf meine Reaktion. Aber ich bin zu betrunken und von den vielen Glücksgefühlen zu berauscht, um reagieren zu können. Stattdessen nicke ich einfach nur.
"Eigentlich wollte ich euch nur Bescheid sagen, dass wir uns auf den Weg machen. Alec hat gekotzt und Layla fühlt sich auch nicht gut. Berthier will langsam auch nach Hause und ich zufällig auch."
"Alles klar, dann machen wir uns auch bald auf den Weg, oder?"
"Gut, Berthier bringt die beiden gerade zum Auto. Ihr beiden kommt offensichtlich auch ohne uns ganz gut klar", meint sie zwinkernd. Dann kommt sie auf mich zu und wir umarmen uns zum Abschied.
"Lass dir meine Nummer von Kohaku geben, wir haben einiges zu besprechen", flüstert Aria mir ins Ohr.
"Mach ich", antworte ich. Doch irgendwie verunsichert sie mich auch ein bisschen. Was haben wir zu besprechen?
Kohaku und Aria umarmen sich auch, dann wendet sie sich zum gehen. "Bleibt anständig!", ruft sie uns noch zu, dann geht sie.
"Jetzt sind wir also doch wieder alleine", sagt Kohaku und fährt sich mit der Hand durchs Haar.
"Stört's dich?"
"Wie kommst du auf die Idee? Lass uns lieber noch was trinken gehen bevor wir auch gehen", schlägt er vor und legt einen Arm um meine Schultern. Dann zieht er mich auch schon in Richtung Tür.
Die stickige Luft schlägt mir als erstes entgegen, dann das Stimmengewirr. Kohaku läuft auf eine etwas abgelegene Sitzecke zu.
"Was kann ich dir bringen?"
"Cola-Rum, aber bitte mit Eiswürfeln", sage ich während ich auf der Bank Platz nehme.
Vielleicht nicht die beste Entscheidung in meinem Zustand noch nachzulegen. Aber jetzt werde ich nicht kneifen. Vor nicht allzu langer Zeit wäre das das Vorglühen gewesen, ich muss mich einfach nur zusammenreißen.
"Kommt sofort, Madame", scherzt Kohaku und geht zur Bar.
Ich nutze den Moment und lasse den bisherigen Abend Revue passieren. Ich habe neue Leute kennengelernt und viel Spaß mit ihnen gehabt. Außerdem haben Kohaku und ich uns schon wieder geküsst und wären wir währendessen nicht draußen gewesen...
Unanständige Gedanken schießen mir in den Kopf und mir wird vor Scham ganz heiß. Zum Glück kann niemand meine Gedanken lesen.
Keine zwei Minuten später ist Kohaku schon wieder da und stellt mein Glas vor mir ab. "Einmal Cola-Rum mit Eis für die Lady."
"Dankeschön", sage ich und trinke einen Schluck, während er sich neben mich setzt. Dem Geschmack nach zu urteilen ist das ein Glas voll Rum mit einem Schuss Cola. "Wie viel Rum ist da bitte drin?"
"Fifty-fifty, ich dachte ich gönne uns mal zum Abschied was", sagt er und zwinkert mir zu.
"Du spinnst doch", murmle ich und trinke noch einen Schluck. Wie vorhin legt Kohaku wieder seine Hand auf meinen Oberschenkel, dieses mal jedoch auf die Innenseite und deutlich weiter oben. Mein Körper verkrampft dieses Mal nur leicht, aber mein Kopf kann das ganze schon wieder nicht verarbeiten. Als Kohaku jedoch anfängt langsam die Innenseite meines Oberschenkels zu streicheln, schaltet mein Gehirn sämtliche Denkprozesse ab und lässt mich einige Sekunden im Leerlauf hängen. Ein unbekanntes Gefühl durchströmt mich und mein Bein scheint regelrecht zu glühen. Eine Hitzewelle jagt die nächste durch meinen Körper und lässt mich unbehaglich fühlen.
Es ist, als würde in mir pures Chaos herrschen und ich kann die neuen Gefühle nicht einordnen. Es ist angenehm und unangenehm zugleich.
Ist es nicht nur unangenehm, weil es bisher unbekannt ist?
Wenn ich so darüber nachdenke, scheint mir Das am plausibelsten, denn eigentlich will ich sogar von Kohaku berührt werden.
Ich versuche mich zu entspannen und lehne mich an seine Schulter und schließe kurz die Augen.
"Warum haben wir uns nicht schon viel früher kennengelernt?", fragt er und fährt sich mit der freien Hand durch durch die Haare.
"Weil wir uns nie begegnet sind", meine ich schmunzelnd.
"Stimmt, du wärst mir bestimmt aufgefallen."
"Wieso?"
"Na weil du die schönste Frau auf diesem Planeten bist", sagt er, als ob es total selbstverständlich wäre.
"Das sagst du doch nur, weil du betrunken bist."
"Nein, das ist mein Ernst. Ich habe noch nie jemanden getroffen, der so wunderschön und attraktiv ist wie du", erläutert er und trinkt sein Glas zur Hälfte aus.
"Du bist der erste, der mir so etwas sagt", gebe ich kleinlaut zu. Seit meine Eltern verstorben sind, habe ich nie so ein ehrliches Kompliment bekommen. Ich wurde oft von fremden Männern angesprochen, allerdings nur in ominösen Clubs unter ordentlichem Alkoholeinfluss. Deswegen fällt es mir auch so schwer, Kohaku seinen Worten Glauben zu schenken.
"Ich liebe deine Augen!", platzt es plötzlich aus mir heraus. Ich konnte nicht einmal darüber nachdenken.
"Nur die Augen? Das ist jetzt schon irgendwie deprimierend", schmollt Kohaku.
Peinlich berührt wickle ich mir eine Haarsträhne um den Finger und gucke woanders hin. "Du machst mich ganz nervös."
"Vielleicht ist das Sinn der Sache?"
"Bist du denn überhaupt nicht aufgeregt oder so?"
"Aufgeregt reicht als Beschreibung gar nicht aus. Wäre ich nicht so betrunken, würden wir hier nicht so sitzen."
"Warum nicht?" Er denkt einen Moment nach, dann nimmt er mir meine Haarsträhne aus der Hand und mustert sie kurz.
"Weil ich Angst habe", flüstert er.
"Wovor?", hake ich nach. Dann greife ich nach meinem Glas und trinke einen riesigen Schluck. Mein Gefühl sagt mir, dass das Gespräch gleich tiefgründiger wird.
"Dir weh zu tun. Oder dass ich etwas tue, dass du gar nicht willst. Ich will nicht, dass du irgendetwas über dich ergehen lassen musst, sondern dass du dich mindestens genau so gut fühlst wie ich." In seiner Stimme meine ich, einen Hauch von Angst zu hören.
Kohakus Sorge um mich wärmt mir das Herz. "Ich wäre nicht hier, wenn ich das nicht genau so sehr wollen würde, wie du."
"Das sagst du nur, weil du betrunken bist", wiederholt er meinen Satz.
"Betrunkene sagen immer die Wahrheit", sage ich grinsend und greife nach Kohaku seiner Hand, die inzwischen still auf meinem Oberschenkel liegt.
Er betrachtet unsere verschränkten Finger einen Moment, dann sieht er mir in die Augen und drückt meine Hand leicht. "Könnte ich mich glatt dran gewöhnen."

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