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Spinell

"Jason...", murmle ich eher zu mir selbst. Mein Herz pocht viel zu kraftvoll gegen meine Rippen und alles Blut weicht mir aus dem Gesicht. Jedes einzelne Haar richtet sich auf und mein Atem stockt. Mein Instinkt befiehlt mir, sofort die Flucht zu ergreifen, doch die Tür ist abgeschlossen und mir bleibt keine andere Fluchtmöglichkeit.
"Ich freue mich wirklich, dich wieder zu sehen", sagt er und grinst mich an.
"Da bist du der Einzige", murmle ich. Ich muss unbedingt ruhig bleiben. Was bleibt mir übrig? Andererseits wird er mir hier nichts antun können, denn es würde sofort auffallen. "Was willst du?"
"Ich will nur reden. Gut schaust du aus." Langsam kommt er auf mich zu und ich will zurück weichen, habe aber das Waschbecken im Rücken.
"Warum hast du deine wunderschönen Haare gefärbt?", fragt er und greift sich eine Strähne. Er ist mir so nah, dass ich seinen Atem auf meinem Gesicht spüren kann. Irgendwie verspüre ich den Drang, seine wulstige Narbe im Gesicht anzufassen, beherrsche mich aber und lasse es sein. "Weil es mir besser gefällt."
"So? Mir gefiel deine natürliche Farbe besser, aber jedem das Seine. Wie geht es dir?"
"Bis vor fünf Minuten ging es mir blendend, danke", fauche ich und wende den Blick ab.
"Wir wollen doch wohl nicht frech werden, oder? Freche Mädchen werden bestraft, das weißt du doch." Mein Herz setzt einige Schläge aus, als die Erinnerungen wieder hochkommen. Aber noch schlimmer ist die Mordlust in mir.
"Warum bist du wirklich hier?", frage ich durch zusammengebissene Zähne und drücke meine Fingernägel in meine Handflächen. Ruhig bleiben. Einfach ruhig bleiben. Er kann dir hier nichts tun.
"Ich wollte nur reden. Über die Zukunft. Was gedenkst du zu tun? Offensichtlich hast du vor, dich an diesen Nichtsnutz von Soldat zu binden, aber ist das auch die richtige Entscheidung? Willst du nicht lieber zu mir kommen? Dir würden alle Türen offen stehen, du könntest studieren, verreisen, was immer du willst. An meiner Seite. Als meine Tochter", erzählt er. Doch der Großteil erreicht mich nicht.
"Urteile nicht über jemanden, den du nicht kennst", knurre ich und sehe ihm provokant in die Augen.
Er kann dir hier nichts tun.
"Wie niedlich. Allerdings bringt uns das nicht weiter."
"Es gibt kein uns, gab es nie und wird es auch nie geben!"
"Ich weiß, ich hab dir üble Dinge angetan...", fängt er an, doch ich falle ihm ins Wort.
"Spar dir das. Ich will überhaupt nichts hören, es gibt keine Rechtfertigung für dein Handeln. Und erst recht keine Entschuldigung. Kein normaler Vater tut seiner Tochter so etwas an, also spar es dir einfach."
"Wer sagt, dass ich mich entschuldigen wollte? Ich.. Ich musste das einfach tun, der Verlust deiner Mutter schmerzt noch heute und die Ähnlichkeit zwischen euch beiden.."
"Es gibt keine Rechtfertigung! Und schieb es nicht auf meine Mutter, allein du bist Schuld!"
"Dann musst du so starrsinnig bleiben. Ich möchte einfach nur der Vater für dich sein, der ich nie sein konnte, verstehst du?"
"Nein. Nein, ich verstehe es nicht", gebe ich ehrlich zu. Seine Hand wandert über meine Schulter zu meiner Taille und ich verkrampfe augenblicklich.
"Spinell, meine Süße... Versuch wenigstens, mich zu verstehen. Jahrelang wurdest du mir vorenthalten und dann, als ich dich endlich hatte, hatte ich das Gefühl, Gemsilika würde wieder vor mir stehen."
"Warum hast du sie dann überhaupt umgebracht? Wenn sie dir doch so viel bedeutet?", frage ich mit zitternder Stimme.
"Das kann ich dir nicht erklären, du würdest es nicht verstehen. Aber ich habe sie geliebt. Mehr als alles andere. Du bist das Einzige, was mir von ihr geblieben ist, also bitte ich dich... Bitte.. Bitte vergib mir und lass mich für dich da sein.."
Ich hab das Gefühl, ich muss mich auf der Stelle übergeben.
"Ich glaube ich kotz gleich. Hör auf, nach Mitleid zu geiern. Versuchst du ernsthaft mir zu erzählen, du würdest meine Mutter foltern und vergewaltigen, wenn sie an deiner Seite wäre? Wie krank ist das bitte?", entfährt es mir wutgeladen.
"Ich war gekränkt, weil sie mich nicht geliebt hat, okay?!"
"Und was kann ich dafür? Ist das meine Schuld?!" Mit jeder Sekunde die vergeht, schrumpft meine Angst und macht Platz für Wut und Hass.
"Du siehst aus wie sie in ihren jungen Jahren! Verdammt, ich wollte sie dafür strafen!"
"Hast du aber nicht. Zu welchem Zweck auch? Sie wird dir das nie vergeben. Niemals."
Einen Moment herrscht Stille, sein Blick ruht auf mir und er wirkt sehr verärgert. Plötzlich hebt er seine Hand an mein Gesicht und sieht mich hasserfüllt an.
"Und wird es sie strafen, wenn ich mich stattdessen weiterhin an dir vergreife?" Langsam streicht er über meine Wange und fasst mir auf einmal an die Kehle. Ein krankhafter Blick tritt auf sein Gesicht, als er langsam zu drückt und mir das Atmen erschwert.
"Nur zu, bring mich um. Danach wird es dir aber auch nicht besser gehen, das sage ich dir so, wie es ist", sage ich und grinse ihn an. Er schiebt mich noch näher an das Waschbecken, sodass es mir im Rücken weh tut. Langsam nähert sich sein Gesicht meinem Hals und als er langsam mit seiner Zunge über meinen Hals fährt, überkommt mich ein unglaublicher Ekel.
Ein plötzliches Rütteln an der Türklinke unterbricht ihn und er lässt von mir ab. Dann hört man ein lautes Klopfen und eine Frauenstimme sagt: "Die Toiletten sind öffentlich zugänglich und ich müsste mich mal sehr dringend erleichtern!"
Jason tritt einige Schritte zurück, richtet seine Krawatte und sieht mich voller Abscheu an. "Wir sprechen uns noch." Dann öffnet er die Tür und gibt den Blick auf die Frau vor der Tür frei. Überrascht starrt sie Jason an und ihr steigt Röte ins Gesicht. "Habe ich gestört?"
"Keineswegs", antwortet Jason, lächelt sie an und verschwindet dann.
Schuldbewusst sieht die Frau mich an, doch ich starre sie nur mit geweiteten Augen an.
"Ist alles in Ordnung? Sie sehen sehr blass aus", sagt die Frau.
"Es ist alles gut", antworte ich und versuche mich an einem Lächeln. Scheinbar hat es sie überzeugt, denn sie nickt mir zu und geht dann zu einer Toilettenkabine.
Schwer atmend drehe ich mich zum Waschbecken um und wasche mir panisch meine Hände und meinen Hals. Ich war auf sein Auftauchen nicht vorbereitet. Alte Wunden reißen auf und treiben mir Tränen in die Augen, die sich ihren Weg über meine Wangen bahnen.
Verflucht, warum musste das passieren? Alle Erinnerungen, Gefühle und Gedanken kommen wieder hoch und lösen einen unsagbaren Schmerz in meiner Brust aus. Ich fühle mich, als müsste ich ersticken.
Etwas desorientiert verlasse ich die Toiletten und gehe nach links. Ich muss unbedingt allein sein. Glücklicherweise ist am Ende des Gangs ein Balkon, den ich erleichtert betrete. Die frostige Luft holt mich zurück in die Realität und lässt mich kurz aufatmen. Etwas schwankend gehe ich zum Geländer und stütze mich daran ab. Die Tränen fließen weiterhin heiß über meine Wangen und hinterlassen kühle Spuren.
Wenn ich doch nur ein Taschentuch hätte..
Minuten verstreifen, in denen ich einfach nur in die Ferne starre und versuche, mich zu beruhigen. Seltsamerweise ist mir nicht einmal kalt, ich genieße die Kälte geradezu.
Plötzlich höre ich, wie sich die Balkontür öffnet und rechne schon damit, dass es Jason ist, der mich vom Balkon schubsen will.
"Hier bist du", höre ich überraschenderweise Kohaku seine besorgte Stimme. Vorsichtig drehe ich mich um, da steht er schon vor mir.
"Ich hab mir Sorgen gemacht, was ist los? Du holst dir hier draußen noch den Tod!" Hastig zieht er sein Jackett aus und legt es mir über die Schultern. Dann legt er seine Arme um mich und zieht mich an seine Brust. "Du bist total ausgekühlt!"
"Mir ist nicht kalt", flüstere ich.
"Deine Lippen sind blau und alles an dir ist wie eingefroren", sagt er und streift mit seiner Hand meine Wange. "Wir gehen jetzt rein und dann erzählst du mir, was passiert ist und warum du weinst, okay?"
Bevor ich antworten kann, zieht er mich zur Tür und wir sind wieder im Haus. Doch anstatt zum Festsaal zu gehen, führt er uns in ein kleines, gemütliches Zimmer.
"Setz dich", befiehlt Kohaku und deutet auf das große Sofa. Allerdings habe ich das Gefühl, ich kann mich nicht setzen, denn auf dem Gang habe ich angefangen, unaufhörlich zu zittern. Nicht gerade meine beste Idee, Ewigkeiten in der Kälte zu stehen.
Schließlich gelingt es mir aber doch, mich zu setzen, Kohaku legt mir eine flauschige Decke über und setzt sich als Wärmequelle neben mich.
"Was ist passiert?", fragt er nach einiger Zeit.
"Jason. Er ist hier", flüstere ich und kralle mich an Kohakus Arm fest. Augenblicklich versteift er sich und sieht mich entsetzt an. "Er hat mir anscheinend aufgelauert, denn er hat uns im Bad eingeschlossen, als niemand außer uns beiden drin war. Wäre diese Frau nicht gekommen... Ich will gar nicht wissen, was dann passiert wäre."
"Was hat er dir angetan?", fragt Kohaku aufgebracht und zieht mich noch ein Stück näher an sich. "Hat er dir weh getan oder schlimmer noch.."
"Nein, er hat mich lediglich etwas gewürgt, dann kam schon meine Rettung. Aber er hat mich mit seiner Art und seinem Gerede bedrängt und Erinnerungen geweckt..", meine Stimme bricht ab. Das Zittern hat nachgelassen, doch innerlich friere ich noch immer. Aber wenigstens kann ich mich an Kohaku festhalten, der mir beruhigend über den Arm streichelt.
"Hätte ich gewusst, dass er hier ist, dann wären wir nie hergekommen. Es muss von Anfang an so gedacht gewesen sein, anders kann ich mir das nicht erklären", murmelt Kohaku. "Nach der Ankündigung meines Vaters hauen wir sofort ab und gehen was trinken, okay?"
Bei seinem Angebot muss ich schmunzeln. "Du bist der Beste", flüstere ich.
"Für dich immer", sagt er und lächelt mir zu.
"Wie kann ein Mensch nur so gestört sein, wie er? Er hat tatsächlich versucht, sich zu entschuldigen. Und sich zu rechtfertigen. Hat er wirklich gedacht, ich würde alles einfach vergessen und ihm freudestrahlend in die Arme springen? Er sagte, ich könnte an seiner Seite tun, was ich will. Reisen. Studieren. Ich und studieren, ich kann nicht mal richtig schreiben und von Mathe brauche ich gar nicht erst anfangen..."
"Du kannst nicht schreiben?", fragt Kohaku ungläubig.
"Doch schon, aber nicht gut. Ich kann lesen, aber nicht schreiben, verrückt oder?"
"Dann muss ich dich wohl nochmal in die Grundschule schicken", meint Kohaku schmunzelnd.
"Ich hatte damals einen Hauslehrer, aber ich wollte nie lernen. Heute bereue ich es schon, aber was soll's?"
"Also schreiben sollte man schon können. Ab morgen bin ich dann wohl dein Hauslehrer."
"Bei dir kann ich mich doch gar nicht konzentrieren", sage ich und kriege sogar ein echtes Lächeln zustande.
"Habe ich da etwa ein Grinsen in deinem Gesicht gesehen?" Seine Art bringt mich zum Lachen und ich fühle mich unglaublich erleichtert.
"Ich bin Meister im Ablenken. Vergiss Jason, er wird dir nichts tun. Wenn du das nächste Mal zur Toilette musst, schiebe ich Wache vor der Tür, einverstanden?"
"Okay", antworte ich und lehne meinen Kopf an Kohakus Schulter.
"Sag bescheid, wenn du dich bereit fühlst, Prinzessin", sagt er und küsst mich auf den Scheitel.
Wie ich diesen Mann liebe...

Sie gehört zu mir Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt