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Kohaku

Ihr triumphierendes Lächeln löst irgendwo tief in mir ein seltsames Verlangen aus. Der Kampf war einfach... Wow. Sie strahlt etwas extrem Gefährliches aus, es fühlt sich an als würde die Luft knistern.
Eigentlich kann sie gar keine Chance haben, schon rein körperlich nicht. Auch was Kraft angeht ist sie im Nachteil. Wie war es also möglich, dass sie mich so schnell überwältigt hat? Und warum wirkte sie dabei so ruhig und gelassen?
Die Gedanken kreisen ununterbrochen durch meinen Kopf.
Wo hat sie das gelernt? Und wenn das ihr Kampfstil im jetzigen Zustand ist, wie sieht es dann erst bei voller Gesundheit aus?
Fragen über Fragen. Doch jetzt bin ich erst mal neugierig auf Ihre Geschichte.
"Du weißt, dass meine Eltern von Jason ermordet wurden, oder?", fängt sie an.
"Ja, das hast du mir beim ersten Treffen erzählt."
"Ich war 15, als es geschah. Ich war noch ein Kind und er hat meine Eltern vor meinen Augen erst zu Brei schlagen lassen und danach gab er ihnen den Rest. Genickbruch. Sie waren sofort tot. Bis heute bekomme ich diese Bilder nicht aus meinem Kopf. Ich dachte, dass es für mich an diesem Tag auch vorbei wäre. Hatte sogar Hoffnung, dass ich mit meinen Eltern in eine bessere Welt reisen darf. Einer von Jasons Männern fragte ihn noch, was mit mir passieren sollte, doch Jason antwortete nur, dass sie mich vorerst laufen lassen sollen. Ich habe bis vor kurzem nicht gewusst, was das für einen Sinn hatte. Doch ich wurde eines besseren belehrt, denn ich wurde innerhalb von wenigen Sekunden vom Jäger zum Gejagten. Ich wusste nicht, was mich noch in unserem Haus halten konnte, deswegen lief ich davon. Einige Tage lief ich ziellos umher, allein, hungrig und müde. Irgendwann, als ich schon dachte es ging zuende mit mir, landete ich in einem kleinen Dorf. In der Hoffnung auf Etwas zu essen und ein warmes Bett taumelte ich zu einem der Wohnhäuser hin. Von Nahem wirkte es etwas verlassen, doch als ich mühsam anklopfte, öffnete mir ein junger Mann. Er ließ mich herein und gab mir Essen und Trinken. Irgendwie sind wir ins Gespräch gekommen und ich habe mich ihm anvertraut. Normalerweise vertraue ich niemandem, außer mir selbst, aber wahrscheinlich waren die Ereignisse so belastend, dass ich nicht anders konnte. Er hat mir angeboten, dass er und seine Frau mich aufnehmen würden. Außerdem haben sie mir angeboten, dass sie etwas aus mir machen würden. Was dieses etwas sein würde, erfuhr ich erst, als es schon zu spät war. Ich vermute, dass sie irgendeiner Terrororganisation angehörten, die als Ziel den Untergang der Heathens hatte. Das Training war hart, sehr hart. Ich musste täglich trainieren, bei Wind und Wetter laufen gehen bis ich endlich meine "Prüfung" ablegen konnte und von da an offiziell als Assassine anerkannt wurde. Da es sich um eine illegale Organisation handelte, lernte ich Dinge, die weit über die Grenzen der Moral hinausgehen. Einfach alles. Bereits mit 16 habe ich meinen ersten Menschen umgebracht. Mit 17 war ich das erste mal ganz allein zum Töten unterwegs. Ich wurde einzig und allein zum Töten ausgebildet, das ist mir erst jetzt klar. Ich verdanke diesem Paar mein Leben. Das, was sie mir bei brachten ist mir in vielen Situationen nützlich, doch im Nachhinein wünsche ich mir, ich wäre ihnen nie begegnet. Ich wollte ein friedliches Leben führen, doch wie sollte mir das gelingen? Mir wurde alles genommen, was ich je hatte. Meine Hoffnung. Meine Zukunft. Mein Glück. Meine Unschuld. Und vor allem die Liebe. Was, außer Hass und Verbitterung bleibt mir in dieser grausamen Welt noch?"
Vor Schreck bleibt mir der Mund offen stehen und ich starre sie mit geweiteten Augen an. Ich kannte einen Teil der Geschichte schon, doch sie von ihr persönlich zu hören, verändert meine Sicht auf das Ganze. Ich hatte ja keine Ahnung, dass sie doch eine weitaus tiefgründigere Geschichte zu verbergen hatte. Meinen Informationen zufolge war sie einfach eine blutrünstige Mörderin, die hinter Gitter gehörte. Doch was hatte sie nach all dem für eine andere Möglichkeit?
"Kurz nachdem ich meine Ausbildung abgeschlossen hatte, hab ich mich von den beiden losgesagt und bin meinen eigenen Weg gegangen. Allerdings denken sie wahrscheinlich, dass ich gestorben bin. Ich bin während meines Auftrages geflohen und wollte meinen Rachedurst stillen. Ich will dieses Monster einfach tot sehen, aber du hast mir einen Strich durch die Rechnung gemacht. Darf ich fragen, was dich angetrieben hat?Und warum hast du mich an jenem Tag nicht einfach umgebracht?"
Tja, warum eigentlich nicht? Weil ich zu feige war? Weil ich nicht den Arsch in der Hose hatte, abzudrücken? Meine Hände zitterten, kalter Schweiß lief mir den Rücken herunter und alles in mir sträubte sich dagegen, sie zu erschießen. Ihr kalter Blick brannte sich innerhalb von Sekunden in mein Gedächtnis und ließ mich auch Tage später nicht in Ruhe. Doch am meisten belastete mich der urplötzliche Umschwung ihrer Gefühle. Die Kälte verwandelte sich in pure Angst und ihr Blick schien mich geradezu an zu flehen, sie zu töten. Doch ich konnte es nicht. Mein ganzer Körper erstarrte. Aber bevor ich etwas tun konnte oder auch nur einen klaren Gedanken fassen konnte, zerriss der ohrenbetäubende Schuss die Luft und Spinell klappte zusammen.
"Ich kann dir keinen plausiblen Grund nennen", antworte ich wahrheitsgemäß, "Ich kann dir aber sagen, dass es mir unendlich leid tut und ich es bereue, nicht abgedrückt zu haben."
"Du willst also, dass ich tot bin? Du bereust es, mich am Leben gelassen zu haben?", fragt sie mit einem amüsierten Lächeln.
"So war das nicht gemeint, ich meinte dann wäre.."
"Schon gut", unterbricht sie mich und legt ihren Zeigefinger auf meine Lippen, "Ich weiß schon, was du meinst."
Etwas überrascht von ihrer Geste halte ich die Luft an und mustere ihr Gesicht, bis sie mir in die Augen sieht und dann erschrocken nach Luft schnappt.
"Tut mir leid!", platzt sie heraus und klettert hektisch von mir herunter. Etwas perplex starre ich sie noch einen Moment lang an.
"Jetzt guck mich nicht so an, das war nicht mit Absicht!", sagt sie mit hochrotem Kopf.
Ihre Reaktion entlockt mir ein Schmunzeln, ich stehe auf und halte ihr meine Hand zur Hilfe hin. In ihrem tiefsten Inneren ist sie eben doch nur eine junge Frau, die sich nach Liebe und Geborgenheit sehnt.
"Lass uns wieder nach oben gehen, ich muss den Einkauf noch auspacken", sage ich als sie meine Hand greift und sich aufhelfen lässt. Zur Sicherheit halte ich ihre Hand, bis wir die letzte Treppenstufe erreichen, denn sie schwankt beim Laufen noch etwas. Oben setzt Spinell sich an den Küchentisch und beobachtet mich, während ich den Einkauf auspacke.
"Kohaku?", fragt sie nach einiger Zeit. "Wie lange darf ich eigentlich bei dir bleiben?"
Einen Moment verharre ich vor dem Kühlschrank. "Du kannst so lange bleiben, wie du willst. Das bin ich dir schuldig."
"Vergiss das mit dem schuldig sein bitte. Du kannst das Geschehene nicht rückgängig machen und auch all dein Mitleid wird mir das, was mir genommen wurde, nicht zurück bringen. Und in dem Moment, in dem du mich gerettet hast, war deine offene Rechnung beglichen. Du bist mir nichts schuldig."
Eigentlich hat sie recht, doch mein Gewissen lässt mir keine Ruhe. Sie wurde meinetwegen gefoltert. Wegen mir wurde sie überhaupt erst gefangen genommen. Und doch rührt sich noch etwas anderes in mir. Sie hat auf irgendeine Art und Weise mein Interesse geweckt und übt eine gewisse... Anziehungskraft auf mich aus. Seltsam, dabei kenne ich sie überhaupt nicht. Doch dieses Mädchen hat mir meinen ersten Kuss gestohlen und etwas in mir geweckt. Nur weiß ich noch nicht, was.
"Wärst du trotzdem bereit, mir noch einmal zu helfen?", fragt Spinell.
"Klar. Es sei denn du willst die Welt unterjochen, das könnte schwierig werden", versuche ich die Situation etwas aufzulockern. Und tatsächlich entlocke ich Spinell damit ein kleines Lächeln.
"Nein, ich will nur eine parasitäre Nebenexistenz aus dem Weg räumen, sonst nichts", antwortet sie gelassen.
"Diese parasitäre Nebenexistenz ist zufälligerweise das Oberhaupt der Heathens, ich glaube es wäre einfacher, die Welt zu unterjochen...", sage ich kopfschüttelnd.
"Du bist witzig. Ich glaube ich mag dich, Kohaku."
Irgendwie freue ich mich über ihre Worte mehr, als ich sollte. "Wäre schlimm wenn nicht, immerhin hast du dich für die nächste Zeit mehr oder weniger bei mir einquartiert."
"Es tut mir leid, dass ich dir Umstände mache", sagt Spinell etwas kleinlaut.
"Du brauchst dich nicht entschuldigen, immerhin hab ich das alles zu verantworten." Und das entspricht der Wahrheit. Ich möchte einfach, dass es ihr gut geht und sie sich erholt. Was danach passiert ist ungewiss, doch ihr Wohlbefinden steht im Moment an erster Stelle.
"Können wir uns auf etwas einigen? Keiner entschuldigt sich, oder gibt sich die Schuld für die Dinge, die geschehen sind, okay? Ich war unvorsichtig und bin in die Falle getappt, die in diesem Falle du warst. Dann hast du mich befreit und ich verschone dein Leben und damit sind wir quitt, einverstanden?"
Harte Worte. Doch ich kann es mir nicht verkneifen, ihre Aussage zu hinterfragen. "Du wolltest mich kalt machen?"
"Hättest du mir nicht geholfen.. Ja, wahrscheinlich hätte ich dich gejagt. Aber jetzt, wo ich dich ein bisschen kennengelernt hab, denke ich, dass es ein Verlust wäre." Verlegen zuckt sie mit den Schultern und wendet den Blick ab.
"Oh man, ich hab noch nie jemanden getroffen, der so ehrlich ist wie du", sage ich lachend und gehe auf sie zu. Verwirrt sieht sie zu mir auf und schaut mich fragend an.
"Und was, wenn das alles nur eine Fassade ist, um dich auszunutzen?", fragt sie und zieht eine Augenbraue hoch.
"Nah, dafür bist du zu niedlich", sage ich und lege spaßenshalber meine Hand auf ihren Kopf.
"Und du bist ein Arsch", sagt sie und rollt gernervt mit den Augen.
"Das war sehr verletzend", sage ich gespielt geknickt und lege mir die Hand auf's Herz.
"Dann geh doch zu deiner Mami und heul dich da aus."
"Ich dachte, du nimmst mich jetzt wenigstens mal in den Arm oder ich bekomme noch einen Kuss von dir.."
"Du bist wirklich ein Arsch. Und das ist absolut nicht witzig!"
"Ich hätte nur nicht damit gerechnet, dass du gleich so ran gehst. Aber mir soll's Recht sein."
"Was soll das denn heißen?", fragt Spinell nun vollkommen verwirrt. Einen Moment lang sehe ich sie amüsiert an, dann setze ich mich auf den Stuhl ihr gegenüber und umgehe ihre Frage.
"Wie geht es jetzt weiter?", frage ich stattdessen in Hinblick auf die Zukunft.
"Ey, ich hab dich was gefragt!"
"Kann mich nicht erinnern", sage ich und versuche so angestrengt wie möglich nachzudenken, "Nein, es fällt mir einfach nicht mehr ein."
"Ich hasse dich."
"Ich denke nicht", antworte ich zwinkernd.

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