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Kohaku

Der Rest der Fahrt verläuft ruhig, Spinell blickt nachdenklich aus dem Fenster und ich versuche mich auf den Verkehr zu konzentrieren. Doch Spinells Gedanken würden mich viel mehr interessieren.
Schließlich kommen wir pünktlich um 19 Uhr im Starlight an. Die Bar ist gut gefüllt und es läuft leise Musik. Das gedämpfte Licht sorgt für eine entspannte Atmosphäre.
Einige Meter entfernt sitzen Berthier und einige von meinen Freunden an unserem Stammtisch. Als er uns erblickt, hellt sich seine Miene auf und er kommt zu uns gelaufen.
Spinell wirft einen neugierigen Blick hinter mir hervor und geht einen Schritt zurück als sie Berthier erblickt. Er ist ein Stück kleiner als ich und hat blonde Haare, die er immer nach oben stylt. Ansonsten sieht er meiner Meinung nach ganz nett aus.
"Hey", sagt er und bleibt vor uns stehen, "ich bin Berthier, Kohakus bester Freund." Er hält Spinell seine Hand hin und sie greift zögerlich danach.
"Spinell", sagt sie leise. Erleichtert atme ich auf. Ich hatte schon fast damit gerechnet, dass sie schreiend weg läuft oder keinen Ton sagt.
"Freut mich Spinell. Du bist also Kohaku seine Flamme?", fragt er mit einem süffisanten Grinsen. Dieser Mistkerl musste natürlich gleich mit der Tür ins Haus fallen. Doch bevor ich etwas sagen kann, greift Spinell nach meinem Arm und schaut Berthier mindestens genau so süffisant an, wenn nicht sogar noch hochmütiger.
Gespannt halte ich den Atem an und warte, was sie jetzt sagt.
"Und wenn es so wäre?", fragt sie und wickelt sich eine Haarsträhne um den Finger, während mein Kopf rot anläuft.
"Dann wäre ich mächtig stolz auf dich", meint Berthier, "schließlich hat ihn bisher noch keine rumgekriegt."
"Das hättest du dir kneifen könnnen", murmle ich und wende den Blick ab. Es stimmt schon, dass ich noch nie eine feste Freundin hatte, aber das hat verschiedene Gründe. Nicht, dass ich nicht interessiert gewesen wäre, aber ich hatte keine Zeit für so etwas. Daran ist hauptsächlich mein Vater Schuld, denn er hat mir vor viele Dinge einen Riegel geschoben. Außerdem bin ich damals der Tochter eines Geschäftspartners meiner Eltern versprochen worden. Ich hoffe aber inständig, dass dieses Versprechen seine Gültigkeit verloren hat. Meine Eltern habe ich fast vollständig hinter mir gelassen. Wenn ich sie mal besuche, dann nur um den Willen meiner Mutter, denn sie leidet mindestens genau so sehr wie ich unter seiner Herrschsucht.
Rein demonstrativ lege ich einen Arm um Spinells Taille und ziehe sie mit in Richtung Tisch. Neugierige Blicke haften auf uns, als wir uns zu den drei anderen setzen.
"Das sind Layla, Aria und Alec", stellt Berthier unsere Freunde vor. Layla ist eine dunkelhaarige junge Frau, die ursprünglich aus Südamerika kommt. Ihre Eltern sind beide Diplomaten, deswegen ist sie in ihrem Leben eine Menge herum gekommen. Als ich sie kennengelernt habe, waren wir erst 16 und sie kam als neue Mitschülerin in meine Klasse.  Wir waren für ein Jahr Sitznachbarn, doch nach diesem einen Jahr zog sie mit ihren Eltern schon wieder um. Vor zwei Jahren kam sie dann selbstständig zurück und arbeitet im Moment in einer Bäckerei, wartet allerdings auf einen Studienplatz.
Aria ist die Freundin von Berthier. Sie ist etwas jünger als ich und hat blondes Haar. Ihre Eltern sind beide als Ärzte im örtlichen Krankenhaus beschäftigt, passend dazu ist Aria dort als Krankenschwester angestellt. Sie hat sich gegen den Willen ihrer Eltern dazu entschieden, nicht in ihre Fußstapfen zu treten und Medizin zu studieren, denn sie wollte lieber kranke Menschen auf ihrem letzten Weg begleiten. Deswegen arbeitet sie auch auf einer Palliativstation, auf der nun mal so gut wie jeder Patient stirbt.
Ich persönlich könnte mit dieser psychischen Belastung nicht leben. Durch ihren Beruf ist sie für ihre 20 Jahre verdammt weise und kann mit jeder Situation umgehen. Aria ist so was wie der Ruhepol in unserem Freundeskreis.
Als sie Spinell erblickt, setzt sie sich sofort etwas auf und schenkt ihr das strahlendste Lächeln der Welt. Irgendetwas sagt mir, dass die beiden sich blendend verstehen werden.
Der letzte im Bunde ist Alec, ein eher unscheinbarer Mann mit kurzen braunen Haaren. Er studiert Lehramt und war früher der WG-Mitbewohner von Berthier. Er ist sehr zurückhaltend und introvertiert, aber wenn er erst mal aufgetaut ist, ist er einer der lustigsten Menschen die ich kenne.
"Ich bin Spinell", sagt Spinell und winkt kurz in die Runde.
"Setz dich zu mir, Spinell!", sagt Aria und winkt sie zu sich.  Nach kurzem Zögern und einem unsicheren Blick zu mir setzt sie sich dann schließlich zu Aria, die ein Stück an Layla heran gerutscht ist.
"Wir besorgen was zum trinken! Spinell, was willst du haben?", fragt Berthier.
"Ein Bier wäre schön", antwortet sie.
"Du trinkst Bier?"
"Ja, wieso?" Ihre Augen sind leicht geweitet als sie mich anschaut, doch ich schüttle nur lächelnd den Kopf.
"Du bist die erste Frau die ich kenne, die Bier trinkt", meint Berthier nur lachend. "Wir sind gleich wieder da."
Mit diesen Worten legt Berthier seinen Arm um meine Schultern und zieht mich mit in Richtung Bar.
"Hübsches Mädel, das du da aufgegriffen hast", sagt er beiläufig. Ich wusste es. Jetzt will er wahrscheinlich jedes noch so kleine Detail wissen.
"Ich wünschte es wäre so einfach", sage ich seufzend. Vielleicht ist es gar nicht mal so schlecht, wenn ich mal mit jemandem drüber spreche. Ein Blick über die Schulter verrät mir, dass der Tisch außer Sichtweite ist.
"Willst du darüber reden oder ist es zu heikel?", fragt Berthier, als wir am Tresen ankommen.
"Es ist so unfassbar kompliziert, ich weiß gar nicht, wo ich da anfangen soll."
"Wir haben doch Zeit. Setz dich und dann erzähl mir einfach alles", schlägt er vor und nimmt auf einem der Barhocker Platz.
"Aber..."
"Sie wird schon zurecht kommen. Aria konnte es kaum abwarten sie kennenzulernen, lassen wir ihnen also ein bisschen Zeit", unterbricht Berthier mich. Ich hab dabei zwar kein gutes Gefühl, aber wahrscheinlich ist es besser, wenn sie sich ganz ungezwungen mal mit ein paar anderen Leuten unterhält.
"Was darf's für euch beide sein?", fragt der Barkeeper.
"Zwei Bier bitte", bestellt Berthier und schon wendet sich der Barkeeper von uns ab. Einige Sekunden später stehen die beiden vollen Gläser vor uns und wir haben unsere Ruhe.
Ich nehme einen großen Schluck von dem kalten Bier, bevor ich anfange zu erzählen. Gespannt sieht Berthier mich an.
"Es ist schon ein bisschen her. Ich bin auf der Arbeit zu meinem Büro gegangen und bin mehr oder weniger über sie gestolpert. Es ist ja nicht selten, dass man jemandem begegnet, den man nicht kennt. Aber sie war mir suspekt und schaute mich an, als hätte ich sie bei irgendetwas ertappt. Ich habe sicherheitshalber einen stillen Alarm ausgelöst und versucht, sie an Ort und Stelle zu halten. Ab da sind die Erinnerungen etwas verschwommen, aber auf einmal kamen ein Trupp Security-Männer und Jason höchstpersönlich in unsere Richtung gestürmt. Es ging unglaublich schnell und innerhalb eines Wimpernschlags wurde sie per Elektroschocker ausgeknockt und abgeführt", erzähle ich und schlucke schwer. Ich war in diesem Moment so perplex, dass ich kaum etwas aufgefasst habe.
"Seit wann werden bei euch denn Menschen ohne weiteres unschädlich gemacht?", fragt er ungläubig.
"Das hat mich auch beschäftigt. In den nächsten Tagen habe ich versucht Informationen über sie zu finden, aber du weißt ja wie viel Wert Heathens auf Datenschutz legt."
"Und was hast du dann gemacht?"
"Rumgefragt. Ich wollte unbedingt wissen, was es damit auf sich hatte. Doch es war, als würde niemand etwas über den Vorfall wissen. Aber dann ist was komisches passiert. Einen Freitag bin ich länger bei der Arbeit geblieben, denn es gab eine Lücke in unserem Sicherheitsprogramm und dementsprechend gab es vermehrte Hackerangriffe. Jedenfalls war es ziemlich spät als ich los bin und du weißt ja, dass mein Büro im Untergeschoss liegt. Ich bin wie jeden Tag zum Fahrstuhl gelaufen und habe auf einmal laute Schreie gehört habe. Schreie, als würde jemand Todesqualen erleiden. " Selbst beim Gedanken an das Geschrei läuft es mir eiskalt den Rücken herunter und eine unangenehme Gänsehaut überkommt mich.
"War sie das?", fragt Berthier und sieht mich völlig entgeistert an.
"Ja. Sie war es. Der Lärm kam aus dem Gang bei der Fluchttreppe. Ich bin in die Richtung gelaufen und bin an einer schwarzen Tür stehen geblieben, aber sie war natürlich abgeschlossen. Aus Neugierde hab ich mich versteckt und die Tür im Auge behalten und tatsächlich kam Jason selbst ein paar Minuten später aus dem Raum, selbstgefällig lächelnd während er seinen Gürtel zugemacht hat." Erst jetzt realisiere ich wirklich, was passiert ist und spüre das schlechte Gewissen, das sich wie ein düsterer Umhang um mich legt.
"Scheiße Berthier, ich wusste ganz genau was da drin abging. Es war jeden Tag das gleiche, jeden Tag hab ich sie gehört, ihn beobachtet und war einfach machtlos. Ich habe ihr nicht geholfen", presse ich durch zusammengebissene Zähne hervor.
Warum habe ich nichts getan? Warum hat es so lange gedauert, bis ich ihr geholfen habe?
Was bin ich nur für ein Mann?
Angespannt raufe ich mir die Haare und trinke noch einen großen Schluck vom Bier, während Berthier mich schweigend ansieht.
"Irgendwann hab ich mich dann aufgerafft und einen Plan gemacht. Fast jeder Tag lief gleich, Jason kam immer zu den selben Zeiten, manchmal auch mehrmals täglich. Spinells Schreie ließen auch nach, irgendwann war schon nichts mehr zu hören. Erst nach etlichen Tagen habe ich einfach den Feueralarm ausgelöst und dann das Schloss geknackt. Der Raum war dunkel, nur eine alte Lampe stand in einer Ecke. Spinell saß zusammengekauert in einer Ecke des Zimmers, völlig verschreckt und traumatisiert. Als ich sie angesprochen habe, ist sie zusammengezuckt und hat mich mit leeren Augen angestarrt." Langsam kommen immer mehr Erinnerungen in mir hoch, mehr Details.
"Ich glaube den Rest will ich gar nicht hören", sagt Berthier und sieht mich verstört an.
Ich schlage ohne darüber nachzudenken mit der Faust auf den Tisch. "Ich kann diesen Anblick einfach nicht vergessen, er verfolgt mich bis in meine Träume."
Ohne ein Wort stellt der Barkeeper zwei Kurze vor uns ab. Hastig stürze ich den Schnaps herunter und versuche klar zu denken. Wie konnte ich es überhaupt so weit kommen lassen?
Auch Berthier trinkt sein Glas aus und schaut mir dann in die Augen. "Ich weiß gerade nicht, was ich sagen soll."
"Ich hab sie einfach mit zu mir genommen, aber noch auf dem Weg zum Auto haben ihr die Beine den Dienst versagt, weil sie zu schwach war. Du kannst dir nicht vorstellen, wie sie aussah. Überall blaue Flecken, vor allem an den Handgelenken, die sind selbst heute noch blau. Ich wusste nicht mal, wie ich sie anfassen soll, ohne ihr weh zu tun", sage ich und merke, dass meine Hände inzwischen zittern. Letztendlich habe ich sie auf die Arme genommen und bin so schnell wie nur möglich zu meinem Auto gerannt.
"Alter, ich dachte ihr seid ein Paar, aber das ist gerade ziemlich heftig", meint er nur. "Ich bin echt sprachlos."
"Ich verstehe nicht, wie sie das so einfach wegstecken kann. Gerade in der letzten Nacht sind wir uns sehr nahe gekommen. Ist das der Schock? Ich weiß einfach nicht, wie ich mich verhalten soll.." Ratlos trinke ich den Rest meines Bieres in einem Zug aus.
"Magst du sie?"
"Natürlich mag ich sie, aber.."
"Magst du sie wirklich?", fällt er mir ins Wort. Ich denke einen Moment nach.
Kann ich diese Frage zu diesem Zeitpunkt überhaupt beantworten? Ich kenne sie doch kaum. Und trotzdem bin ich ihr näher gekommen, als jemals jemandem zuvor.
Ist das zwischen uns etwas rein körperliches? Nein. Zumindest nicht für mich, denn sonst würde mein Herz nicht so wild klopfen, wenn sie mir in die Augen sieht.
"Ja, ich mag sie wirklich", antworte ich schließlich und merke, wie meine Wangen heiß werden.
"Und mag sie dich?", fragt Berthier, als wäre es das normalste auf dieser Welt. Aber das ist es doch eigentlich, oder?
Und trotzdem kann ich mich ihr gegenüber einfach nicht normal verhalten. Würde es nach mir gehen, hätte die letzte Nacht kein Ende gefunden. Mir spukt aber immer ihr kläglicher Anblick im Kopf herum. Die Angst in ihren Augen, ihre Schreie und vor allem ihr geschundener Körper.
Es sollte nicht richtig sein, dass wir so aufeinander anspringen. Spinell müsste doch eigentlich Angst haben und ich sollte es nicht wagen sie auch nur anzusehen.
Ich bin Schuld, dass sie ünerhaupt erst gefangen genommen wurde. Ich hätte sie einfach freundlich darauf hinweisen sollen, dass sie dort nichts zu suchen hat und alles wäre gut gewesen. "Ich weiß es nicht."
"Dann ist doch heute die perfekte Gelegenheit, um es herauszufinden. Mach dich nicht mit der Vergangenheit verrückt, sondern nutze deine Chance. Behandle sie nicht wie ein zerbrechliches, hilfloses Kind. Sie ist eine erwachsene Frau und wird schon wissen, was sie tut. Vertrau auf dein Bauchgefühl und überlass ihr die Führung, dann kann nichts schief gehen. Ich glaube so etwas in der Art würde Aria jetzt sagen. Entspann dich und gib ihr einfach Zeit, dich kennenzulernen", rät er mir. Und er hat wahrscheinlich Recht. Es hat keinen Sinn, alles abzuwehren.
Solange es von ihr ausgeht, kann es doch nur richtig sein, oder?
"Ich hoffe, dass du Recht hast, denn ansonsten wird sie mich spätestens in einer Woche hassen", meine ich schmunzelnd.
"Sie wird jetzt sicher jemanden brauchen, der einfach für sie da ist. Rede mit ihr, aber frag nicht nach.. du weißt schon. Entweder sie erzählt von sich aus etwas, oder sie behält es für sich. Wobei letzteres sicher angenehmer für dich wäre."
"Ich will nicht mal darüber nachdenken. Gerade deswegen habe ich ja solche Angst, ihr Unrechtes zu tun", sage ich. Es fällt mir zu schwer, einfach abzuschalten, denn es ging auch alles so schnell. Ich fühle mich einfach überfordert und das ständige Herzklopfen tut sein übriges.
"Lass uns zu den anderen zurück gehen, die fragen sich bestimmt schon, wo wir bleiben", lenkt Berthier ab.
Ich bestelle noch Spinell ihr Bier und nehme mir selbst auch noch eins mit.
Vielleicht sollte ich einfach weniger über alles nachdenken und mich mehr auf das Wesentliche konzentrieren.
Spinell ist schließlich kein kleines Mädchen mehr.

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