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Spinell

"Du musst Etwas essen", rede ich Kohaku zu, der sich aber stattdessen die Decke über den Kopf zieht, weil er nicht essen will.
"Los, ansonsten muss ich dich füttern", sage ich und stupse ihn an.
Wir sind bereits seit vier Tagen im Krankenhaus, zwischendurch war ich aber Zuhause und habe ein paar Sachen geholt, damit Kohaku sich wenigstens etwas wohl fühlen kann. Außerdem wurde er auf eine andere Station verlegt, weil es ihm schon deutlich besser geht.
Der Arzt hat mir gestattet, Kohaku heute mit dem Rollstuhl ein wenig an die frische Luft zu bringen, allerdings nur, wenn er sein Frühstück vollständig isst und seine Blutwerte in Ordnung sind. Kohaku verweigert das Essen konsequent, wenn ich nicht anwesend bin und auch wenn ich da bin, ist es mühevoll, ihn zum Essen zu animieren.
"Das Essen hier ist ekelhaft", murrt er und schaut unter der Decke hervor.
Ich kann ihn verstehen. Die Pampe die er essen soll, sieht wirklich widerlich aus, ist aber nähstoffreich und liegt nicht schwer im Magen.
"Na gut", seufze ich und nehme einen Löffel voll Pampe in die Hand. "Du machst jetzt deine Mund schön weit auf und schluckst das Zeug einfach. Wenn du dich übergeben musst, dann aber bitte nicht in meine Richtung." Ich führe den Löffel an seinen Mund und tatsächlich nimmt er die Decke weg, statt sich weiter zu wehren. Schwer schluckt er den Brei runter und verzieht dabei das Gesicht.
"So abartig?", frage ich amüsiert. Er nickt und schaut mich auffordernd an. "Oh nein. Ich denke nicht mal daran, das zu probieren!"
"Los. Mach. Probier."
Vorsichtig probiere ich das Zeug und verspüre den Drang, es sofort wieder auszuspucken.
"Okay, du hast gewonnen. Das ist echt abartig. Aber du musst es trotzdem essen, dann darf ich dich mit raus nehmen, an die frische Luft", sage ich aufmunternd.
"Dann fütter mich wenigstens, das macht es ein wenig amüsanter."
Empört schaue ich ihn an. "Wir sind hier nicht bei Wünsch dir Was!"
"Genau das meine ich", sagt er und lächelt provokant. Aber ich kann ihn beim besten Willen nicht böse sein, irgendwie schmeichelt es mir sogar ein bisschen.
Als er aufgegessen hat, macht er nochmal kurz die Augen zu.
"Das war echt übel", murmelt er und dreht sich auf die Seite.
Sanft streichle ich ihm über den Arm und flüstere: "Jetzt können wir immerhin mal nach draußen gehen."

Vorsichtig helfe ich Kohaku in den Rollstuhl. Er ist einigermaßen mobil, dennoch darf er nicht alleine aufstehen oder laufen. Zufrieden schiebe ich ihn aus dem Gebäudekomplex in den Klinikpark, dabei passe ich auf, dass er auch ja seinen Infusionsständer festhält, da er sich ansonsten wehtun würde. Unter einem Baum halten wir an und ich setze mich auf die dort stehende Bank.
"Ich fühle mich wie ein pflegebedürftiger alter Mann, den man jetzt auch noch durch die Gegend karren muss", klagt Kohaku und bringt mich zum Lachen.
"Ich liebe dich auch als pflegebedürftigen alten Mann. Du hast dich doch auch um mich gekümmert, nachdem du mich befreit hast. Dabei kanntest du mich nicht mal und hattest nur Probleme mit mir. Du bist wenigstens pflegeleicht."
Schmunzelnd greift er nach meiner Hand und lehnt sich zurück. "Ich wünschte, ich hätte dich früher gekannt."
"Dann wären heute sicher einige Dinge anders. Vielleicht wären wir kein Paar? Es ist gut so, wie es ist. Ich würde alles genau so machen."
"Es ist schön, mal raus zu kommen. Da drin wird man doch bekloppt."
Ich kann ihn voll und ganz verstehen. Ich hätte mich schon längst selbst entlassen, doch Kohaku ist schlau genug, dies nicht zu tun. Deswegen versuche ich ihm den Aufenthalt hier so einfach wie möglich zu machen. Jede freie Minute verbringe ich hier, nur zum Schlafen, Waschen und Essen fahre ich nach Hause. Sobald er wieder selbstständig laufen kann, wird er entlassen.
"Bald kannst du wieder nach Hause."
"Ich hoffe doch. Nachts ist es ziemlich einsam hier." Da kann ich ihm nur zustimmen. Jeden Abend habe ich Probleme mit dem Einschlafen und jeden Morgen schrecke ich hoch und habe Angst, dass Kohaku entführt wurde und wieder bei Rubis ist. Aber Rubis ist tot. Sie muss tot sein, ich habe sie eigenhändig umgebracht. Sie kann gar nicht überlebt haben. Doch es lässt mir einfach keine Ruhe und ich spiele die ganze Zeit mit dem Gedanken, nachzusehen, ob sie auch wirklich tot ist.
"Darf ich dich was fragen?", fragt Kohaku.
"Du darfst mich alles fragen."
"Haben deine Eltern eigentlich ein Grab?" Die Frage macht mich stutzig und lässt mich etwas frösteln. "Warum fragst du?"
"Jeder Verstorbene hat doch ein Grab, oder nicht?" Mein Herz zieht sich zusammen und ich beiße mir auf die Unterlippe um nicht zu heulen.
"Ja. Sie haben eins." Schwer schluckend wende ich den Blick ab. Jedes mal tut die Erinnerung an meine Eltern weh und treibt mir die Tränen in die Augen.
"Wenn ich hier raus bin, wollen wir sie dann mal besuchen?", fragt er vorsichtig. Überrascht sehe ich ihn an. Ich war ewig nicht mehr dort, denn jedes Mal hatte ich einen emotionalen Zusammenbruch und habe lange dort gesessen und einfach nur geweint. Aber wenn Kohaku dabei ist, könnte es anders werden. Er ist eine perfekte Stütze für mich und steht mir bei. Etwas unsicher nicke ich und er drückt meine Hand.
"Wir packen das schon."

Am Abend, nachdem Kohaku schlafen gegangen ist, kann ich den Drang, nach Rubis' Leiche zu sehen, nicht mehr unterdrücken. Zuhause ziehe ich mir etwas Dunkles an und fahre dann zu der Psychiatrie. Erst irre ich etwas durch den Wald, lande dann aber am Haupteingang des Gebäudes. Mit einem sehr mulmigen Gefühl suche ich mit einer Taschenlampe und einem Küchenmesser bewaffnet, den Raum, in dem sie liegt. Bei jedem noch so leisen Geräusch zucke ich zusammen und suche meine Umgebung nach Schatten ab. Schließlich komme ich an dem Raum an und sehe einige Schritte entfernt eine Gestalt auf dem Boden liegen. Das muss sie sein. Langsam gehe ich darauf zu und richte die Taschenlampe auf die Leiche. Ein unglaublicher Gestank steigt mir in die Nase und ich muss mich beherrschen, um mich nicht zu übergeben. Das rote Haar und das entstellte Gesicht lassen mich erleichtert aufatmen. Dennoch ist der Anblick einfach nur widerlich, deswegen sehe ich weg und leuchte den Raum aus. Überall liegt Schrott, der Stuhl und die Fesseln liegen ebenfalls auf dem Boden. Ich schaudere und entdecke dann die Spritze mit der giftigen Flüssigkeit. Ich nehme sie und schmeiße sie an die gegenüberliegende Wand und als sie zerspringt, überkommt mich ein unglaublicher Hass auf Rubis. Ihretwegen ist Kohaku fast von der Schippe gesprungen und liegt im Krankenhaus. Auch der Anblick ihrer Leiche lässt meinen Zorn nicht abklingen. Viel zu schnell pumpt mein Blut durch meinen Körper und ich sehe wie Rubis sich langsam aufrichtet und mich hämisch angrinst. Maden fallen aus ihren Augenhöhlen, als ihr Kopf vor und zurück schaukelt, sie mit dem Finger auf mich zeigt und sich mit der anderen Hand vor Lachen den Bauch hält.
Wie erstarrt stehe ich da, kann nicht mal wegsehen geschweige denn blinzeln, als sie auf mich zu taumelt und mich am Hals packt.
"Schön, dich endlich wieder zu sehen!" Ihre Spucke landet auf meinem Gesicht, doch ich kann mich noch immer nicht regen. Dann zieht sie wie aus dem Nichts die Spritze hervor, die ich gerade eben noch an der Wand zerschmettert habe. Voller Wucht rammt sie mir die Nadel in den Hals und ich schreie auf vor Schmerz. Als sie mir die ganze Dosis gedrückt hat, gehe ich schreiend zu Boden. Ich kneife meine Augen zu und werfe mich vor Schmerz hin und her. Doch als ich wieder die Augen öffne, stelle ich fest, dass Rubis noch immer tot vor mir liegt und ich mir alles nur eingebildet habe. Dennoch schmerzt mein Hals und ein Blick auf meine Hand zeigt, dass ich mir da etwas aufgekratzt haben muss, denn mein eigenes Blut klebt dran. Total verschreckt ziehe ich meine Knie an mich heran und lasse meinen Tränen freien Lauf. In meinen Gedanken sehe ich wieder Rubis vor mir, wie sie mich auslacht und mir die Spritze in den Hals rammt.
Dieser Ort ist grauenhaft, ich kann hier nicht bleiben. Als ich mich total verheult aufrichte, werfe ich einen letzten Blick auf Rubis. Sie sitzt aufrecht dort und winkt mir lächelnd zu. Panisch reibe ich mir die Augen und alles ist wieder unverändert. Ich weiß absolut nicht, was mit mir los ist. Voller Angst renne ich aus dem Raum, verirre mich im Gebäude und springe schließlich aus einem der zerbrochenen Fenster. Die ganze Zeit über fühle ich mich, als würde mir jemand folgen, doch weit und breit ist nichts zu sehen oder hören.
Ich muss hier weg.
Völlig außer Atem komme ich am Auto an.
Alles ist gut. Reiß dich zusammen, du bildest dir das alles nur ein. Du fährst jetzt nach Hause und schläfst dich aus.
Ein Rascheln aus dem Wald lässt mich aufschrecken, ich steige ins Auto und fahre so schnell wie möglich los. Mein Herz rast die gesamte Fahrt über und die Angst verfolgt mich weiterhin.
Zuhause wasche ich mir das Gesicht mit kaltem Wasser und sehe mich selbst im Spiegel an.
"Es ist alles gut", rede ich mir selbst zu. Gleichzeitig strömen wieder die Tränen aus meinen Augen und meine Sicht verschwimmt. Ich blinzle einige Male, sehe dann aber nicht mein Gesicht vor mir, sondern das meiner Mutter. Ungläubig starre ich den Spiegel an, doch meine Mutter lächelt mich nur traurig an. Vorsichtig greife ich nach ihr, doch zucke zusammen, als meine Finger gegen den kalten Spiegel stoßen.
"Mama..?", flüstere ich, doch dann ist das Bild wieder weg und ich sehe nur mein eigenes verquollenes Gesicht.
Was ist los mit mir?
Total erschöpft stolpere ich ins Schlafzimmer und lasse mich auf das Bett fallen.

Sie gehört zu mir Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt