Wütend brachen sich die Wellen an den über Jahrzehnten hinweg glattgeschliffenen Steinen, die noch immer dem Wasser trotzten. Meterhoch stieg die Gischt und wurde vom allgegenwärtigen Wind davongetragen. Hoch über diesem Schauspiel saß Denor, den Oberkörper weit zurückgelehnt und die Beine über dem Abgrund baumelnd. So furchterregend der Blick nach unten auch war, desto eindrucksvoller erschien ihm der Horizont. Endlos weit erstreckte sich das Blau des Meeres, ohne dass Denor dessen Ausmaße hätte abschätzen können. Lange saß er regungslos über dem Abgrund und ließ das Gefühl der Unendlichkeit auf sich wirken. Schon oft hatte er diesen Anblick bewundert, doch raubte es ihm jedes Mal aufs neue den Atem. Keine Macht kann es mit der Unendlichkeit des Meeres aufnehmen! Auch Lendoran, der schon hier gesessen hatte, als die anderen auf ihren Pferden angekommen waren, schwieg, und lass die Wellen ihr eindrucksvolles Lied singen. Ein Gefühl hatte Denor hierher, an die Seite des Elfen, getrieben während Gardan, Malin und Lika auf der weitläufigen Wiese hinter ihm zurückgeblieben waren. Ein Gefühl, dass Lendoran nicht hier saß, um die Schönheit des Meeres zu betrachten. Genau dieses Gefühl veranlasste ihn nun dazu, dass Wort zu ergreifen: "Ich bin jedes mal aufs neue beeindruckt, wenn ich das Meer betrachte", stellte Denor fest. "Das Meer ist unübertroffen", stimmte Lendoran ihm zu: "In seiner Schönheit, wie in seiner Grausamkeit."Erstaunt schaute Denor den Elfen neben sich von der Seite an, während dieser mit geschlossenen Augen ins Nichts blickte. "Manchmal könnte man es gar für ein Lebewesen halten, welches still und ruhig auf Beute wartet, um dann unerbittlich zuzuschlagen", sprach Lendoran und steigerte Denors Verwirrung ein weiteres Mal. "Ein Lebewesen?", wieder schaute Denor aufs Meer hinaus, auf der Suche nach einer Erklärung für die rätselhaften Worte seines Gefährten. "Schließe die Augen, und du wirst verstehen" Warum spricht er nicht aus, was er mir sagen will? Neigen alle Unsterblichen Völker dazu, in Rätseln zu sprechen, oder hat er Spaß daran, mich in Unwissenheit zu lassen. Trotz seiner Ungeduld folgte er den Anweisungen Lendorans und schloss die Augen. Es wunderte in nicht, nicht den Hauch eines Hinweises für die Behauptung des Elfen zu finden. Schwärze umgab ihn und so konzentrierte er sich wie er es gelernt hatte auf seinen sechsten Sinn. Hell leuchtete der Energiefluß des Elfen neben ihm, nicht dem Tode Nahe wie zur Zeit seiner Vergiftung. Unbeweglich türmten sich die Energien der Klippe unter ihm auf, doch das alles war es nicht, was ihn vor erstaunen innehalten ließ: Das Meer schien zu leben! Unglaublich schnell bewegten sich die Energien in einem fortwährenden Kreislauf. An der Oberfläche vom Wind getrieben in Richtung Küste, nur um kurz darauf unter den Wellen in die entgegengesetzte Richtung zurückzukehren. Hoch flog die Gischt und Denor hatte das ungute Gefühl, dass das Meer sie zu erreichen versuchte. Natürlich wusste er, dass Flüssigkeiten, insbesondere Wasser, sich anders als andere leblose Stoffe verhielten, dass sich die Energien bewegten und den Anschein von Leben erwecken konnten, aber in einem solchen Ausmaß war es ihm bislang noch nicht begegnet. Das Meer lebt! Sein Verstand sagte ihm, dass es nicht so war, aber es war schwer etwas anderes zu glauben, wenn man dieses Bild vor Augen hatte. Ehrfürchtig öffnete er die Augen, um das Meer mit seinen anderen Sinnen zu betrachten, und sofort war die beindruckende Erscheinung verschwunden: Leblos bewegte sich das Wasser, nur vom Wind in Bewegung gesetzt und nicht das kleinste Anzeichen eines riesigen Lebewesens war auszumachen.
„Grausam?“, fragte Denor kurz angebunden, noch immer das imposante Bild des lebendigen Meeres im Kopf. Ob er wohl schlechte Erfahrungen gemacht hat? Abrupt erwachte Lendoran aus seiner Starre und blickte in Denors Richtung. „Egal wie groß, oder schnell dein Schiff auch sein mag, dem Meer kann es niemals trotzen. Du kannst hoffen, dass es dich verschont, doch ist das Glück nicht mit dir, verschlingt es dein Schiff, dich und deine gesamte Besatzung. Ohne einen Grund zu brauchen zieht es dich in die Tiefe und dir bleibt kaum die Möglichkeit, dich zu wehren, Flucht als einzige Option.“ Denor wollte seinen Blick erwidern, doch Lendoran senkte die Lieder, schaute zurück aufs Meer. „Weißt du, die sechs Jahrhunderte Frieden, waren bei weitem nicht so friedlich, wie viele es dir glauben machen wollen. Sie waren nicht vergleichbar mit den blutigen Kriegen, die dieser Kontinent bereits gesehen hat und noch sehen wird, doch auch zu dieser Zeit gab es Blutvergießen“, bestätigte der Elf Denors Vermutung, dass Lendoran schlechte Erinnerungen an das Meer hatte. Wie viel Trauer sich in einem solch langem Leben wohl ansammelt? Und woher nimmt man die Kraft weiterzukämpfen, wenn man schon zweimal den Untergang des eigenen Volkes miterlebt hat? „Immer wieder kam es vor, dass die Orks, unterstützt von den Delani, mit Schiffen über das Meer kamen, oder über die Eiswüste im Norden marschierten. Sie plünderten Dörfer und nahmen jeden gefangen, der ihnen über den Weg lief.“ Orks nehmen Gefangene? Welchen Nutzen haben sie davon? Zu gerne hätte er eine Antwort auf diese Fragen gehabt, aber er wagte es nicht Lendoran wegen seiner Unwissenheit zu unterbrechen. Irgendwie hatte er das Gefühl, dass der Elf eine starke emotionale Verbindung zu dieser Geschichte hatte. „Vor zweiundfünfzig Jahren plünderten die Orks an der Küste des Menschenreiches nicht weit von hier entfernt. Einem Bauern war es gelungen sich in seinem Vorratskeller zu verstecken und der Stadtwache in Mitradi von dem Angriff zu berichten. Ich hielt mich wegen eines Diplomatischen Auftrages zufällig in der Stadt auf, weshalb der Kommandant der Stadtwache meine Hilfe erbat, um die Orks lange genug aufzuhalten, bis die Soldaten eintrafen. Ich brach sofort auf und flog, der Beschreibung des Bauern folgend, die Küste entlang … doch ich kam zu spät. Die Schiffe waren bereits abgelegt und nur noch am Horizont zu sehen … Also verzichtete ich auf die Hilfe der Soldaten und flog alleine den Schiffen hinterher.“ Den Kopf gesenkt hielt Lendoran inne, als wären die Erinnerungen zu schmerzhaft, um sie zu erzählen. Verwirrt betrachtete Denor seine Silhouette: Was hat Lendoran dazu angetrieben alleine eine ganze Flotte Orks und mindestens einem Delani zu verfolgen? War der Hilferuf eines Verbündeten solch ein Risiko wirklich wert, oder gibt es ein Geheimnis, welches er mir verschweigt?
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Im Bann der Delani
FantasiEin Krieg endet, und ein neuer beginnt. Während die Witwen noch um ihre verstorbenen Ehemänner trauern, ziehen ihre Söhne bereits demselben Schicksal entgegen. Frieden ist nicht mehr als eine Erinnerung in den Köpfen der Menschen, Zwergen und Elfen...