Kapitel 1

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Als mein Wecker am Morgen klingelte, war ich bereits wach. Oder besser gesagt, ich habe nie geschlafen. Ich würde also heute unglaublich müde sein. Aber darüber hätte ich auch nachdenken können, bevor ich das Buch gestern Nacht zu lesen angefangen hatte. Ich konnte mich nicht losreißen und ehe ich mich versah, ging die Sonne auf und mein Wecker klingelte. Ich gähnte herzhaft und legte das Buch auf meinen Nachttisch. Vielleicht hatte ich später noch etwas Zeit, um die letzten Kapitel zu lesen. Immer noch gähnend ging ich unter die Dusche. Hoffentlich vertrieb warmes Wasser meine Müdigkeit etwas.

Als ich fertig war und wieder in mein Zimmer ging, hörte ich unten aus der Küche, wie Mrs. George gerade frühstückte und dabei die Nachrichten schaute. Sie war mir bisher von allen Pflegemüttern die Liebste, denn sie ließ mich in Ruhe. Manchmal wurde sie etwas lauter, aber dann hatte sie meistens einen anstrengenden Tag im Krankenhaus gehabt. Sie arbeitete viel, deshalb sah ich sie auch kaum. Aber das störte mich nicht, mir war es auch lieber. In meinen sechzehn Jahren als Waisenkind war ich in vielen Pflegefamilien gewesen. Ich hatte viele Mütter und Väter kennengelernt, die meisten mochten mich nichts besonders. Aber dann gab es auch diese, die die ganze Zeit nicht von deiner Seite wichen. Und das brachte mich richtig auf die Palme. Wahrscheinlich habe ich deshalb so oft die Familie wechseln müssen. Entweder sie mochten mich nicht oder ich mochte sie nicht und sie gaben mich irgendwann auf. Aber nun lebte ich hier bei Mrs. George schon seit drei Jahren und es waren die besten Jahre überhaupt. Sie selbst hatte keine Kinder, aber auch wenn man es ihr nicht ansah, mochte sie Kinder. Leider hatte sie nie jemanden gefunden, der ihr diesen Traum erfüllt, und nie die Zeit dafür. Ihre Arbeit hielt sie auf Trapp, aber trotzdem nahm sie Kinder bei sich auf. Ich bin ihr drittes Pflegekind. Hier fühlte ich mich zum ersten Mal wirklich wohl. Und ich hatte endlich Freunde gefunden.

Nebenan wohnten Kate und und ihr Zwillingsbruder John. Sie sahen sich wirklich unglaublich ähnlich. An meinem ersten Tag hier, als mir Mrs. George den Garten gezeigt hat, habe ich über den Zaun zwei Köpfe gesehen. Als sie mich bemerkten, grinsten beide und kamen durch eine lose Latte im Zaun zu uns. Seit diesem Tag sind wir Freunde. Wir gehen auf dieselbe Schule und in die gleiche Klasse. Ich war nie glücklicher. In einer Stunde würde ich sie in der Schule sehen. Mit einem Lächeln im Gesicht ging ich in mein Zimmer und machte mich fertig für die Schule. Es war mein vorletztes Jahr hier. Nur noch zwei Jahre in diesem verdammten Loch namens Schule. Es gab nicht wirklich viele Lehrer, die ich mochte und die meisten Schüler mochte ich auch nicht besonders. Sie waren alle so oberflächlich und urteilten viel zu schnell. Gerüchte verbreiteten sich innerhalb von Sekunden an dieser Schule. Aber irgendwie würde ich das überstehen. Ich war für die meisten Menschen unsichtbar, sie bemerkten mich nicht und mir war das ganz recht. Manchmal war es aber auch etwas anstrengend, wenn selbst die Lehrer nicht bemerkten, dass ich da war.

Ich seufzte bei dem Gedanken an die Schule und verließ mein Zimmer. Als ich in der Küche ankam, war Mrs. George bereits weg. Ich aß noch schnell eine Schüssel Müsli und verließ dann das Haus. Draußen warteten bereits Kate und John.

„Tori! Beeil dich, der Bus fährt gleich!", rief Kate.

Ich schaute auf meine Uhr. Viertel vor Acht. Verdammt, ich hatte schon wieder getrödelt.

„Ich bin doch schon da.", sagte ich, aber genau in diesem Moment fiel mir etwas ein. „Oh, Shit. Ich habe mein Buch vergessen. Wartet nicht auf mich, ich gehe es schnell holen."

„Kannst du nicht einen Tag ohne deine Bücher überleben?", rief Kate etwas genervt.

„Nein.", rief ich bereits im Gehen. Sie kannte mich und wusste, dass ich meine Bücher brauchte. Sie meinte es nicht böse und das wusste ich. Ich rannte zurück ins Haus und holte mein Buch.

Als ich wieder auf der Straße war, waren die beiden weg. Gut, dass sie auf mich gehört hatten. Sonst wären sie zu spät gekommen wegen mir. Schon wieder. Ich nahm die Beine in die Hand und flitzte zur Bushaltestelle. Aber als in ankam, war mir klar, dass ich den Bus bereits verpasst hatte. In zehn Minuten würde der nächste erst kommen. Also beschloss ich bis zur nächsten Station zu Laufen, dann musste ich nicht so lange warten.

Oblivia - Die VergessenenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt