Kapitel 23

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„Und was siehst du?", fragte Finn ungeduldig. Ich hörte, wie ein Stuhl knarzte und ächzte als würde jemand unruhig darauf hin und her wippen.

„Blau und Rot...", begann ich, doch ich musste schlucken. Unter den wabernden Fäden und Bändern aus Blau und Rot brachen langsam und stetig die anderen Farben wieder durch, als hätte ich sie allein mit der Kraft meiner Gedanken verdrängt, mir selbst vorgemacht, dass es sie gar nicht gäbe. Doch sie waren da, so deutlich und hell wie zuvor.

„Das ist gut, oder?", sagte Finn an seine Mutter gerichtet.

„Auf jeden Fall ist es besser. Immerhin wissen wir, was das zu bedeuten hat. An sich wäre es bestimmt kein Grund zur Beunruhigung., wenn du mehr als diese beiden Farben sehen würdest. Nur hätte ich beim besten Willen keine Ahnung, wir ich dir das dann erklären sollte. Aber mit dem, was du siehst, können wir arbeiten", antwortete Claire und auch sie schien ein wenig ruhiger zu sein als zuvor und hatte ihre Fassung wiedergewonnen. Aber in ihrer Stimme schwang noch etwas anderes mit, etwas, dass ich mir nicht erklären konnte. Und vielleicht auch nicht erklären wollte.

Ich beschloss die Wahrheit über das, was ich wirklich sah, für mich zu behalten und zu hoffen. Zu hoffen, dass es einfach nichts Besonderes war, nichts Sonderbares. Und es wirklich keine unerklärbare Bedeutung hatte. War ich nicht schon sonderbar genug mit zwei Elementen? Keines von beiden hatte ich auch nur im Ansatz unter Kontrolle. Wie hätte ich dann denn bitteschön gleich alle Elemente unter meine Kontrolle bekommen sollen? Sonderlich begabt war ich allen Anscheins sowieso nicht. Ich würde also nur doppelt und dreifach Ärger machen.

Meine Gedanken schweiften von der leuchtenden Kugel vor meinem inneren Auge ab, sodass das Bild anfing zu flackern. Das brachte mich dazu, mich wieder auf meine eigentliche Aufgabe zu fokussieren.

„Lass uns fortfahren", sprach Claire und berührte sanft meine Hand, wahrscheinlich, um mir zu signalisieren, dass sie für mich da war.

„Ich bin bereit", sagte ich schlicht.

„Also dann, du hast immer noch dein Knäul vor Augen, richtig?", fragte sie und ich nickte wieder zur Antwort. Ich hoffte, dass ich, wenn ich nicht sprach, mehr Konzentration aufbringen konnte.

„Das, was du dort siehst, ist, wie du dir vielleicht schon denken konntest, deine Energie. Es ist der Teil deiner selbst, der dir den Zugang zu den Elementen ermöglicht. Da du noch jung bist und deine Kräfte erst jetzt erweckt wurden, sollte das Energieknäul sehr intensiv und strahlend leuchten. Je älter du wirst, desto blasser und schwächer wird dieses Leuchten werden, bis es eines Tages ganz erlöschen wird. Meistens passiert das kurz bevor man stirbt, daher wissen wir Oblivia auch, wann wir etwa sterben werden, was aber nur im Fall eines natürlichen Todes zutrifft. Aber dazu kommen wir ein anderes Mal. Gerade sollte das Knäul ruhig und mehr oder weniger glatt sein, stimmt das?"

Wieder nickte ich.

„Das bedeutet, dass deine Fähigkeiten, deine Energie gerade nicht benutzt wird. Sie schlummert solange, bis du darauf zu greifst oder deine Emotionen Überhand nehmen." Claire machte eine kurze Pause. „Jetzt musst du dir den Ring vorstellen, der wie der Ring um den Saturn liegt. Er berührt das Knäul nicht und schwebt gemächlich um die Kugel im Inneren. Das sind deine Emotionen", fuhr sie fort.

Vor meinem inneren Auge kristallisierte sich genau das, was sie beschrieben hatte. Tatsächlich sah es Saturn ziemlich ähnlich, wenn auch auf eine sehr sonderbare Art und Weise. Meine Vorstellungskraft schien doch zu etwas zu gebrauchen zu sein. Wie ein dickes, locker gebundenes Band floss der Ring um das Energieknäul. Bisher war er grau, einfach nur farblos und leblos.

„Ich sehe das Band", gab ich von mir, damit sie mit ihren Erklärungen weitermachte.

„Wunderbar. Nun, wie zuvor, welche Farbe hat das Band für dich im Augenblick, wenn du dich darauf konzentrierst? Keine Sorge, hierbei ist die Sache mit den Farben ein wenig anders und heißt nicht gleich, dass wir auf ein neues Mysterium stoßen", versuchte sie mich zu beruhigen. Immerhin fühlte es sich so nicht wie ein Test an, bei dem ich auf ganzer Linie versagte.

Oblivia - Die VergessenenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt