Wieder kam mir mein vertrauter Gedanke auf. Und einmal mehr verstand ich, wie wahr diese Worte waren.
Es wäre besser, wenn ich gar nichts fühlen würde.
Aber mir kam auch ein anderer Gedanke. Auch wenn er durchaus ziemlich absurd war. Wenn die Emotionen die Energie zusätzlich mit Nachschub füttern konnten, war man in diesem Zustand nicht sogar stärker als normalerweise? Hatte man dadurch nicht seine eigenen Grenzen überschritten?
Es musste nur einen Weg geben, die Emotionen kontrolliert einfließen zu lassen. Ich hatte keine Ahnung, wie mein Geist auf solch abwegige Gedankengänge kam, wenn doch alles, was ich wollte, das Gegenteil war. Normal zu sein. Keine Kräfte zu haben. Stärke hatte bisher noch nie einen Reiz auf mich ausgeübt. Zumindest nicht in dieser Hinsicht. Vielleicht, um mich gegen meine Peiniger zu verteidigen. Aber das war, nun ja, eine andere Art der Stärke.
Wohin würde mich diese neue Welt wohl hinführen? Egal wohin, ich würde es nicht einmal dazu kommen lassen, dass in solch einer Gefahr schwebte. Dass ich andere in Gefahr brachte.
„Wenn mein Geist explodieren würde, was würde mit meinem Körper passieren? Wäre ich wie eine Bombe?" Wieder einmal hätte ich meinen viel zu schnellen Mund dafür ohrfeigen können, dass er meine Gedanken laut aussprach. Das war wahrlich ein Problem.
„Das willst du nicht wissen, glaub' mir", hörte ich Finn mit angsterfüllter Stimme sagen.
„Da muss ich Finn zustimmen. Es gibt sicherlich schönere Möglichkeiten aus dem Leben zu scheiden." Claire schwieg daraufhin für einen Moment, als würde auch sie jemandem gedenken, den diese Fehlfunktion aus dem Leben gerissen hatte. Ich beschloss, nicht weiter nachzufragen, da beide nicht gerade glücklich aussahen bei dem Gedanken an das, was passieren konnte, wenn man komplett gegen seine eigenen Emotionen und Kräfte verlor. Wenn ich ihnen den Schmerz ersparen konnte, warum sollte ich dann meine Neugier befriedigen und ihnen dabei möglicherweise alte Wunden wieder aufreißen?
Claire räusperte sich und lenkte meine Aufmerksamkeit wieder auf sie und weg von meinen abschweifenden Gedanken. Ich konnte mir auch gut vorstellen, dass sie sich selbst damit wieder in die Realität zurückholte.
„Nun gut, lass uns weitermachen. Was wir nun versuchen, ist tatsächlich der schwierigste Teil oder besser gesagt ist die Aufrechterhaltung der Knackpunkt dieser Visulisierung. Um den ungewollten Zugriff deiner Emotionen zu verhindern, erschaffen wir eine Schutzbarriere um dein Energiezentrum. Wie eine Blase. An sich sollte sie fest und stabil sein, aber ich habe auch schon Oblivia kennengelernt, die sich für eine elastische Schutzbarriere entschieden haben, wenn die diese schließlich aufrechterhalten konnten. Das kommt also ganz auf dich an. Trotzdem musst du dir keinen Druck machen, dass sie Form oder Beschaffenheit perfekt ist. Auch du wirst deine Zeit brauchen, bis du das dauerhaft aufrechterhalten kannst und es bei einer Form bleibt."
Wieder drückte Claire sanft meine Hand. Mehr als ich anfangs erwartet oder auch nur bemerkt hatte, gab mir diese kleine Geste Halt, gab mir Sicherheit.
„Stell dir vor, wie sich langsam und sachte, als wäre es eine Seifenblase, die zerplatzen könnte, wenn man sie zu schnell bewegt, die Schutzhülle um deine Energie schiebt. Als würde sie gemächlich diese umschließen, ohne Eile, aber beständig. Wunder dich nicht, wenn du dich dabei ein wenig seltsam fühlen sollest."
„Seltsam? In wie fern seltsam?", fragte ich hastig. Ich fühlte mich die ganze Zeit bereits seltsam. Das hier kam mir immer noch ziemlich absurd und albern vor.
„Ehrlich gesagt empfinden alle diesen Prozess anders. Manch einer fühlt sich seltsam frei und erleichtert, ein anderer plötzlich schwer und eingeengt, sowohl im Geist als auch im eigenen Körper, als würde im Inneren etwas weggesperrt werden. Und andere wiederum fühlten nur ein leichtes Kitzeln wie von einer Feder, die alle Ecken deines Körpers erreicht und diese kurz berührt. Natürlich kann bei dir auch ein völlig anderes Gefühl aufkommen. Alles ist möglich, Trauer, Wut, Freude und Erleichterung, es ist so vielfältig wie wir Menschen es sind. Möglicherweise fühlst du dabei auch gar nichts, auch wenn das nur bei en wenigsten Oblivia der Fall zu sein scheint. Versuch es einfach einmal. Verzweifle nicht, wenn es nicht gleich beim ersten Versuch klappen sollte", erklärte sie mir geduldig und spürte, wie ich währenddessen ruhiger wurde.
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Oblivia - Die Vergessenen
FantasyWas würdest du tun, wenn du plötzlich erfährst, dass du nicht wie die anderen bist? Victorias Leben war vollkommen normal - bis eines Tages Finn an ihre Schule wechselt. Plötzlich geschehen seltsame Dinge, die sich Victoria einfach nicht erklären ka...