Kapitel 17

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Stetig prasselten Tropfen gegen die Scheibe als ich all die angestauten Emotionen und Sorgen frei ließ. Mein ganzer Körper zitterte und noch immer heulte ich Rotz und Wasser während ich jegliches Zeitgefühl verlor. Alle Hemmungen waren für den Moment abgelegt, nichts hielt mich davon ab, meine Gefühle herauszulassen.

Und Finn...war einfach nur da. Es war alles, was ich im Moment brauchte, eine ruhige Schulter und ein paar schützenden Arme, um mich einen Augenblick fallen zu lassen. Finn war ein stiller Zuhörer, während ich meine Seele sprechen ließ, er brauchte nicht einmal ein Wort zu sagen. Zu wissen, dass er da war und vielleicht meine Sorgen um den Kontrollverlust über meine Fähigkeiten kannte und verstand, reichte mir in diesem Augenblick.

Als meine Tränen langsam versiegten, als mein Zittern aufhörte und ich mich nicht mehr wie ein Häufchen Elend fühlte, ließ ich Finn wieder los und auch er zog sich zurück. Für das hier und jetzt hatten wir eine Brücke geschaffen, eine Verbindung. Dann sag er mir tief in die Augen. Seine blau-violetten Augen schienen bis zu meiner Seele durchzudringen, als könnte er mein Innerstes einfach so lesen.

„Wenn du bereit bist, bin ich da und höre dir zu, wenn du es willst. Ich dachte, dass du das wissen solltest."

„Danke", sagte ich und meinte es auch so. Finn hielt mir ein Taschentuch hin und nahm es dankbar entgegen. Wahrscheinlich lief mir Schnodder aus der Nase und ich hatte es nicht einmal mitbekommen.

So leise wie möglich schnäuzte ich mir die Nase und warf das Taschentuch in den Papierkorb neben dem Bett. Ich atmete tief durch und stieß die Luft wieder aus, bevor ich wieder sprach.

„Der Blitz...das war ich, oder?", fragte ich den Blick nach unten gesenkt, meine bandagierten Arme betrachtend. Sie schienen mir die Schuld geradezu entgegen zu schreien.

„Ich schätze mal ja. Du hast Zugriff auf Feuer und Wasser und der Rest ist einfache Physik. Aber das eigentlich Wichtige ist, dass es nicht deine Schuld war. Du brauchst nur Zeit, um zu lernen, wie du deine Kräfte beherrscht und dich nicht von ihnen beherrschen lässt. Und ich weiß, dass du das kannst, dass du es schaffen wirst. Tori, du bist eine der stärksten Oblivia, die ich bisher kennen gelernt habe...und du entwickelst deine Fähigkeiten gerade erst." Finn sah mich aufmunternd und mit einem seltsamen Funkeln in den Augen an. Doch ich verlor keine Zeit, um ihm zu antworten.

„Aber hast du nicht gesehen, was ich angerichtet habe? Ich hätte uns alle umbringen können und das nur, weil ich in diesem Moment Angst hatte! Das klingt für mich nicht gerade nach Stärke. Ich bin eine verdammte Gefahr für alle, die mir zu nahekommen. Dieser blöde Baum hätte mich einfach mitreißen sollen, dann wären alle in Sicherheit vor mir. Dann gäbe es nicht auch noch Verletzte wegen mir..." Aufgebracht redete ich wie ein Wasserfall auf ihn ein. Wie konnte er nur denken, dass das, was ich hervorbrachte, Stärke war oder wohlmöglich sogar etwas Gutes? Hatte er nicht oft genug gesehen, was für ein Chaos ich überall hinterließ, wenn meine Emotionen verrücktspielten? Und wie konnte er hier sein, nach allem, was ich ihm gesagt hatte? Hasste er mich vielleicht doch nicht? Für einen kurzen Moment, innerhalb eines Wimpernschlags durchzuckte mich so etwas wie Hoffnung. Jedoch verflog sie so schnell wie sie aufkeimte, als ich sie wieder aus meinem Kopf verbannte.

„Natürlich habe ich dich gesehen! Was meinst du, wie du überlebt hast? Wie glaubst du, ist der Baum so plötzlich zur Seite gekippt? Hätte ich diese gottverdammte Eiche nicht gerade noch weggefegt, wärst du jetzt nicht mehr! Und ich bereue es nicht, egal wie garstig und abweisend du mir gegenüber bist, ich würde es wieder tun. Denn du hast es nicht verdient zu sterben, also sag erst gar nicht so etwas! Du bist etwas Besonderes, jemand, der es mehr als wert ist gerettet zu werden, jemand, der verdient hat zu leben. Und ich werde nicht zulassen, dass du dich an deine selbstzerstörerischen Fähigkeiten verlierst! Ich werde das nicht noch einmal mit ansehen, verdammt!"

Jetzt war auch er aufgebracht, ich sah regelrecht wie von seinem Körper Dampfwolken aufstiegen. Finn atmete schwer ein und ich sah, wie er seine Hände zu Fäusten ballte. In seinem Gesicht stand Zorn...Zorn und Schmerz. „Und nur zu deiner Information. Du bist die Einzige, die im Krankenhaus bleiben musste. Die anderen Verletzten haben nur marginale Schnittwunden durch die Scherben erlitten. Sie hätten sich genauso gut irgendwo anders schneiden können, überall, an jedem anderen Tag auch. Nie im Leben würden sie dir die Schuld geben, denn alles, was sie gesehen haben, war wie ein Blitz in einen Baum eingeschlagen und dann umgefallen ist. Mach dir also keine unnötigen Vorwürfe und Sorgen um andere, wenn du diejenige bist, die fast gestorben wäre."

Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Ein Teil von mir wusste. Dass er recht hatte und trotzdem rannte ein anderer Teil meines Verstands in die entgegengesetzte Richtung und sah einzig und allein in sich selbst das Böse und Gefährliche, den Auslöser für so viel unnötiges Leid. Und das war eindeutig der unvernünftige Teil. Aber gerade, wenn ich mich schwach fühlte und von allem überfordert, war es diese Unvernunft, die ans Licht trat. Doch Finn tat sein Bestes, diesen Teil in mir zum schweigen zu bringen. In meinem Kopf tauchte die Erinnerung an eines meiner ersten Gespräche mit Finn auf. Damals hatte er gesagt, dass er das schon einmal erlebt hatte. Hatte er das damit gemeint? Hatte er jemanden verloren, der ihm viel bedeutete?

Aber Finns Worte brachen durch, er hatte Erfolg. Ich spürte, wie die eisernen Krallen der Schuldgefühle an Kraft verloren, wie sich die Verzweiflung ein wenig zurückzog.

„Es...es tut mir leid. Ich sollte das nicht an dir auslassen", lenkte ich ein. „Aber ich weiß einfach nicht, wohin mit all diesen wirren Gefühlen. Jedes Mal, wenn ich denke, dass ich mich beherrschen kann, lasse ich es den ganzen Tag plötzlich regnen oder fackle irgendetwas fast ab." Oder bringe jemanden ohne es zu wollen in Gefahr, fügte ich in Gedanken hinzu.

„Ich fühle mich wie eine tickende Zeitbombe. Und ich weiß nicht, ob das jemals besser werden kann. Ich bin nicht besonders, ich bin auch alles andere als stark. Und ich will es auch gar nicht sein. Ich will nur, dass es endlich aufhört, Finn. Kann man diese...Fähigkeiten nicht einfach abschalten?" Verzweiflung lag in meinem Blick, Hoffnung suchend sah ich in seine Augen, suchte in seinen Worten. Aber Finn schwieg, wägte seine Worte im Geiste ab. Und dann traf er eine Entscheidung.

„Nein, das geht nicht. Wenn sie erst einmal auftauchen, gibt es kein zurück mehr. Das Einzige, was du jetzt tun kannst, ist deine Kräfte zu zähmen. Wenn du erst weißt, wie du das schaffst, musst du deine Gabe auch nicht wieder benutzen, auch wenn es aus meiner Sicht eine absolute Verschwendung von Talent wäre. Wenn es aber das ist, was du willst, wird dich keiner davon abhalten." Bedauern schwang in seiner Stimme.

Mein Blick war während er sprach zum Fenster gewandert. Schweigend sah ich in den grauen Wolkenhimmel. Ich brachte es nicht über mich ihm wieder in die Augen zu schauen. Finn konnte noch so leidenschaftlich und noch so oft versuchen, mich davon zu überzeugen, dass meine Fähigkeiten etwas Besonderes, etwas Wunderbares waren. Mein Herz und mein Kopf aber waren sich so einig wie nie zuvor.

Trotzdem ließen mich einige Fragen in meinem Kopf nicht los. Was interessierte es Finn, was ich tat? Was machte er sich aus mir? Wir kannten uns kaum eine Woche, hatten kaum Zeit miteinander verbracht außer den zahllosen Momenten, in denen ich verloren in den Auswirkungen meines Gefühlschaos steckte. Hatte er etwa... Nein! Diesen Gedanken verbannte ich zu all den anderen unerwünschten Gefühlen und Überlegungen in den hintersten Winkel meines Kopfes. Nie im Leben würde er Gefühle für mich entwickeln. Niemals. Und selbst wenn dieser unwahrscheinliche Fall doch Realität sein sollte, würde ich alles mir Mögliche tun, um das aus der Welt zu schaffen. Das war ich Kate schuldig...oder?

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Huch!

Besser zu spät als gar nicht, richtig?

Ich hoffe, dass das Kapitel euch auch trotz der Verspätung gefällt ;)

Liebe Grüße,

Mio_Mysterium

Ps: Ich wünschte, ich könnte als Ausrede sagen, dass ich das schöne Wetter genossen habe, aber leider saß ich auf der Arbeit fest. Drinnen :(

Oblivia - Die VergessenenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt