„Und hier werde ich also zum Avatar?", scherzte ich.
„Sehr witzig. Aber nicht ganz daneben. Komm, ich zeig dir alles", sagte er und ging die Treppenstufen hinauf, die zum Eingang führten. Das Gebäude war alt und die Fassade war leicht zerfallen. Aber ansonsten schien das Gebäude keine Schäden aufzuweisen. Ich folgte Finn über die Treppe durch ein großes, grün lackiertes Holzportal. Wir befanden uns in einem breiten Flur, von dem viele Türen abzweigten. Nichts in diesem Gebäude sagte bisher, 'Hey, wir können die Elemente beherrschen'. Alles war so normal. Am Ende des Flurs führte eine breite Holztreppe nach oben. Am Fuß der Treppe führten links rechts Türen, die offen standen, in eine Art Saal. Von dort aus hörte man mehrere Stimmen. Finn hielt aber auf die Treppe zu. Oben bog er nach links und hielt dann vor einer dunklen Holztür. Er klopfte und wartete auf eine Antwort. Als jemand im Raum 'Herein' rief, öffnete Finn die Tür und bedeutete mir, ihm zu folgen.
Der Raum wirkte wie ein gewöhnliches, wenn auch etwas antik eingerichtetes Büro. An dem Schreibtisch, der den Großteil des Raumes einnahm saß ein Mann über einige Dokumente gebeugt. Erst als er aufschaute, erkannte ich ihn. Es war Mr. Summer, Finns Vater.
„Finn?", fragte er und erwartete eine Erklärung.
„Sieh ihr in die Augen und du wirst wissen, warum sie hier ist", sagte er nur.
Etwas verdutzt sah ich Finn an und schaute dann zu seinem Vater. Dieser riss, ähnlich wie Finn neulich in der Mensa, die Augen auf, als er mir in die Augen sah.
„Wieso ist mir das bisher nicht aufgefallen?", fragte er laut auch wenn er es wohl eher nur denken wollte.
„Weil sie so unscheinbar ist. Du hast einfach nicht richtig hingesehen. Aber sie ist wirklich eine von uns. Ich hatte schon zwei Kostproben", erzählte er fast schon stolz, als wäre ich irgendein Hund, der einen tollen neuen Trick gelernt hätte. Ich schnaubte.
„Und warum hast du mir nichts davon erzählt?", klagte Mr. Summer.
„Weil das erst gestern war. Und du nicht jemanden einfach so sagen kannst, 'Hey, du kannst Elemente kontrollieren, Glückwunsch'. Das funktioniert nicht bei jedem. Und weil sie mir erst heute zugehört hat, nachdem sie fast draufgegangen wäre", erwiderte Finn.
„So schnell? Zu welchem Element hast du Zugang?" Das war die erste Frage, die er direkt an mich stellte. Ich schaute zu Finn bevor ich anfing zu sprechen.
„Wenn es so ist, wie Finn sagt, dann wohl Wasser und Feuer", sagte ich und zuckte die Schultern. Meine anderen Fragen hob ich mir für später auf. Ich war noch nicht ganz darüber hinweg, dass hier eigentlich einer meiner Lehrer vor mir saß.
„Ich sage so was nicht zum Spaß", erwiderte Finn. „Was meinst du, wo plötzlich diese riesigen Regenwolken herkamen? Und morgen wirst du in der Schule auf dem Sportplatz auch die Auswirkungen von ihrer Feuershow sehen."
„Zwei Elemente? Und du hast deine Fähigkeiten erst jetzt entwickelt? Deine Eltern haben auch nichts davon gewusst?", fragte mich Mr. Summer.
„Meine Eltern sind gestorben als ich zwei war. Also, nein. Und bisher konnte ich es auch nicht regnen lassen", antwortete ich ehrlich.
„Das tut mir leid. Lebst du dann bei Verwandten?", fragte er weiter.
„Nein, ich habe nie jemanden aus meiner Familie kennengelernt. Ich lebe in einer Pflegefamilie."
„Hm. Das ist schade. Aber es muss mehrere Genträger in deiner Familie gegeben haben, wenn du zwei Elemente beherrschen kannst", sagte er sachlich. „Finn hat dir doch hoffentlich schon einige Fragen beantwortet, oder?"
DU LIEST GERADE
Oblivia - Die Vergessenen
FantasyWas würdest du tun, wenn du plötzlich erfährst, dass du nicht wie die anderen bist? Victorias Leben war vollkommen normal - bis eines Tages Finn an ihre Schule wechselt. Plötzlich geschehen seltsame Dinge, die sich Victoria einfach nicht erklären ka...