Ich schüttelte den Kopf und schloss die Tür auf. Wie gewöhnlich war es dunkel drinnen. Mrs. George war bereits vor Stunden schlafen gegangen oder hat eine Doppelschicht. Im Moment war ich noch weniger auf ein Gespräch aus als sonst. Ein friedlicher Gedanke, mein inneres Chaos nicht plötzlich heraus locken zu müssen.
In der Küche fand ich Reste von Lasagne und schloss daraus, dass ich heute Nacht nicht allein im Haus war. Normalerweise würde mir dieser Fakt das Gefühl von Sicherheit geben. Aber heute Nacht hatte ich Angst, furchtbare Angst, dass ich nachts ungewollt das Haus in Brand steckte und wohlmöglich Mrs. George verletzte. Und ich hätte keine Erklärung dafür. Es wäre auch kein Finn da, der in letzter Sekunde alles zum Guten wendete und verhinderte, dass jemand zu Schaden kam und unser Geheimnis offenbart werden würde.
Nach dem, was ich ihm gesagt hatte, würde ich es nicht über mich bringen ihn im Notfall anzurufen. Ich hatte ja nicht einmal eine Nummer oder die eines anderen Mitglieds der Oblivia. Was nicht gerade zu einem Ende in der Endlosschleife meiner Gedanken führte. Sobald ich die Gelegenheit hatte, musste ich das definitiv ändern.
Als ich die Treppe hoch zu meinem Zimmer gegangen war, öffnete ich leise die Tür. Hinter der Tür wirkte alles wie immer - klein, aber gemütlich. Mrs. George hatte mit mir damals gemeinsam Möbel und Dekorationen besorgt. Sie wusste, wie wichtig es war, einen Rückzugsort zu haben, einen Ort für sich allein.
Als sie ein Kind war, hatte sie sich mit drei kleineren Geschwistern ein Zimmer teilen müssen. Erst als sie schon fast erwachsen war, hatte sie ein eigenes Zimmer bekommen. Und ich kannte diese Situation auch nur zu gut. In einigen der Pflegefamilien, die mich aufgenommen hatte, mussten wir uns zu viert oder zu fünft einen Raum teilen. Vor allem mit jüngeren Mädchen als Teenager zusammen, hatte man eine sehr stressige Zeit und keinen Ort, um nachzudenken.
Doch hier hatte ich genau solch einen Ort gefunden. Es war zum ersten Mal etwas, ein Ort, den ich gerne mein Zuhause nannte.
Ich schaltete die Lichterkette über meinem Bett an, schloss behutsam meine Tür, um Mrs. George nicht aufzuwecken und setzte mich unschlüssig auf mein Bett. Stillschweigend starrte ich auf die Reflexion der kleinen Lampen der Lichterkette im Fenster gegenüber, betrachtete auch mein Gesicht.
Bin ich immer noch ich?, fragte ich stumm mein Spiegelbild.
Äußerlich waren da immer noch meine blonden langen Haare, die durch den ständigen Regen, den meine Emotionsachterbahn herausbeschwor, in nassen strubbeligen Strähnen mein Gesicht umspielten und die Narbe auf der Schläfe preisgaben. In dem wenigen Licht, das die Lichterkette von sich gab, wirkte meine Haut fahl und blass. Als wäre ich krank. Vielleicht war ich das in gewisser Hinsicht auch. Auch wenn ich es mehr abnormal oder seltsam nennen sollte.
Denn seit wann hatten Menschen diese Art von Fähigkeiten? Seit wann beschworen wir Gewitterwolken oder ließen Stürme aufziehen? Wie konnte man bei klarem Verstand sein und denken, dass man selbst der Auslöser für gewaltige Feuerwalzen war?
Es fühlte sich so an, als würde der Teil von mir, der vorgab normal zu sein, wie alle anderen zu sein, plötzlich nicht mehr da sein. Und er würde auch nicht wieder zurückkehren, außer es gab doch eine Möglichkeit, meine Fähigkeiten zu unterdrücken oder sie gar gänzlich verschwinden zu lassen.
Viele, viel zu viele unbeantwortete Fragen schwirrten mir durch den Kopf. Fragen, die bis morgen warten mussten. Aber unter den Fragen steckten auch weiterhin Ängste.
Konnte ich es kontrollieren? Würde ich die Nacht überstehen, ohne jemanden um Schlaf zu schaden? Konnte ich das überhaupt im Schlaf?
Den Kopf wieder schüttelnd, versuchte ich die Gedanken zu vertreiben. Ich beschloss mich abzulenken und sah mich in meinem Zimmer um. Mein Blick fiel auf die unangetasteten Bücher auf meinem Schreibtisch. Durch das Chaos, was meinen Alltag durcheinandergebracht hatte, sind mir meine geliebten Bücher fast entfallen.
Perfekt!, dachte ich.
Nachdem ich meine erneut nass gewordenen Sachen ausgezogen hatte und sie gegen einen bequemen und weichen Schlafanzug getauscht hatte, lag ich eingekuschelt unter meiner Decke und verschlang die Seiten.
Jegliche Sorgen waren auf Pause gesetzt, alle Gedanken drehten sich nun nur noch um die Heldin und ihre Abenteuer. Leider verlor ich auch jegliches Zeitgefühl.
Als ich meine Augen zum ersten Mal von den Zeilen läsen konnte und mein Blick auf meinen Wecker fiel, ließ ich vor Schreck fast mein Buch fallen. Durch das Fenster schienen bereits die ersten Strahlen der Morgensonne. Ich hatte noch zwei Stunden, bis ich mich für die Schule fertig machen musste.
Plötzlich und ohne Vorwarnung kamen all meine Sorgen, die mich noch einige Stunden zuvor gequält hatten, zurück. In meinem Bauch bildete sich ein schmerzhafter Knoten. Hastig sah ich mich in meinem Zimmer um. Aber hier schien alles unversehrt zu sein.
Auf Zehenspitzen schlich ich mich durch das Haus. Auch im restlichen Haus schien alles wie immer zu sein. Ich hatte es also geschafft. Erleichtert stieß ich den Atem aus. Als ich mich umdrehte blieb mir vor Schreck fast das Herz stehen. Vor mir stand Mrs. George. Mit müden Augen und einem Gähnen auf den Lippen sah sie mich an.
„Guten Morgen", sagte sie und gähnte herzlich. „Warum bist du denn so früh wach? Konntest du nicht schlafen?"
Schnell suchte ich nach einer Antwort. Mrs. George wusste nicht, wie gerne ich die ganze Nacht lang Bücher verschlang, dazu ließ sie mir zu viele Freiräume. Aber wenn sie davon erfahren würde, würde sie besorgt sein.
„Ich habe schlecht geträumt", antwortete ich also stattdessen und hoffte, dass sie nicht weiter nachbohren würde.
„Oh, das ist aber schon länger nicht mehr passiert, oder?"
„Nein. Aber es ist nicht so schlimm wie früher", beruhigte ich sie.
„Das ist gut. Falls du reden willst, weißt du ja, dass du zu mir kommen kannst", sagte sie strich mir sanft und liebevoll über den Arm.
„Danke", erwiderte ich und schenkte ihr ein ehrliches Lächeln. Es war schön zu wissen, dass es jemanden gab, der sich um einen sorgte, auch wenn uns sonst nicht viel miteinander verband.
„Willst du auch einen Kaffee?", fragte sie auf den Weg in die Küche zur Kaffeemaschine.
„Ich glaube, ich lege mich noch mal aufs Ohr. Also lieber nicht, danke."
„Mach das. Du siehst ziemlich fertig aus. Als wärst du diejenige von uns beiden, die gestern Überstunden gemacht hat und nicht ich." Mrs. George kicherte und konzentrierte sich wieder auf den Kaffee. „Schlaf gut."
Ich beschloss also wieder nach oben zu gehen. In meinem Zimmer angekommen fiel mir meine achtlos in die Ecke geworfene Tasche auf. Und schlagartig fielen mir auch all die nicht gemachten Hausaufgaben wieder ein. Als hätte ich nicht schon genug Sorgen. Aber es war immerhin eine Sache in meinem Leben, die ich kontrollieren konnte.
Das wird wohl nichts mehr mir Schlaf, dachte ich. Mittlerweile spürte ich die Folgen einer weiteren schlaflosen Nacht. Aber immerhin war ich dadurch von der Sorge befreit gewesen, jemanden im Schlaf zu verletzten.
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Hui, ein ungewöhnlich überpünktliches Kapitel? Ganz genau xD
Viel Spaß! ♥
Ein schönes Restwochenende und viel Spaß mit dem neuen Kapitel ;)
Liebe Grüße,
Mio_Mysterium
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Oblivia - Die Vergessenen
FantasyWas würdest du tun, wenn du plötzlich erfährst, dass du nicht wie die anderen bist? Victorias Leben war vollkommen normal - bis eines Tages Finn an ihre Schule wechselt. Plötzlich geschehen seltsame Dinge, die sich Victoria einfach nicht erklären ka...