Chapter 43

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Nachdem die ersten unserer Freunde schon gegangen waren und sich die Runde wirklich aufzulösen begann, bot Jake mir an, mich nach Hause zu fahren. Als ich einen Seitenblick auf Jo – mit der ich ja gekommen war – geworfen hatte und sah, dass sie mir zustimmend zunickte, nahm ich sein Angebot lächelnd an. Ich wusste allerdings trotzdem nicht, wie ich mich ihm gegenüber nun verhalten sollte, Jake aber schien auch irgendwie abgelenkt zu sein und seinen eigenen Gedanken hinterherzuhängen.

Als wir beide im Auto saßen, zermarterte ich mir den Kopf nach einem unverfänglichen Gesprächsthema, aber bis auf die Frage, was dieser letzte Kuss eigentlich aus Jake und mir machte, fiel mir nichts ein – und dieses Thema war nun wirklich alles andere als unverfänglich. Ehrlichgesagt musste ich aber auch zugeben, dass Jake mir bei der Hilfe nach einem Gesprächsthema keine große Hilfe war, da er zunächst überhaupt nichts sagte und einfach auf die Straße starrte. Ich versuchte, mir sein Verhalten damit zu erklären, dass er sich bei Dunkelheit mehr aufs Fahren konzentrieren musste, aber sonst hatte Jake auch immer jede Gelegenheit genutzt, um sich mit mir zu unterhalten.

Was war nur auf einmal los? Bei Ian war er noch so süß gewesen, auch nach dem von ihm ausgehenden Kuss, dass ich wirklich gar nicht mehr verstand, warum er sich nun so widersprüchlich verhielt. Ich versuchte sogar, die Schuld bei mir zu finden, aber ich wusste beim besten Willen nicht, was ich hätte falsch gemacht haben können. Was war also nun in Jake gefahren?

Ich überlegte mittlerweile schon, ihn einfach auf sein Verhalten anzusprechen – immerhin hatten Jake und ich schon immer miteinander reden können. Irgendetwas hielt mich aber davon ab, ob es nun Jakes starrer, konzentrierter Blick war, das Schweigen, das auch von ihm ausging oder seine Fingerknöchel, die schon ein wenig hervortraten, weil er das Lenkrad des Wagens seiner Mutter so fest umklammerte.

Auch wenn ich nicht sehr weit entfernt von Ian wohnte, kam mir die Fahrt nach Hause unendlich lange vor, gerade weil Jake und ich nicht redeten. Auch, als wir in unsere Einfahrt einbogen und Jake den Motor abstellte, sagte er kein Wort, schnallte sich aber ab und stieg mit mir aus. Immer noch schweigend gingen wir auf die Haustür zu. Ich atmete noch einmal kurz durch, dann drehte ich mich zu ihm um und sah ihm in die Augen, was mir aber auch nicht half, sein Verhalten zu verstehen.

Auch wenn ich normalerweise fast immer in seinen Augen hatte ablesen können, woran er dachte oder was er fühlte, schien er sich nun irgendwie vor mir verschlossen zu haben. Ich wusste immer noch nicht, wie ich sein Verhalten einordnen sollte.

„Jake?", fragte ich vorsichtig und auch als er endlich meinen Blick erwiderte, verwirrte mich der Ausdruck in seinen Augen.

„Claire, ich...", fing er an und für einen kleinen, für einen klitzekleinen Augenblick huschte ein verletzlicher Ausdruck über sein Gesicht, verschwand allerdings wieder sofort. Jake holte einmal tief Luft und mit großen Augen sah ich ihn an, da ich wirklich keine Ahnung hatte, was er sagen würde. „Ich denke, dass wir uns nun gut genug kennen und es lassen können."

Mehr als diesen einen Satz sagte er nicht und obwohl ich das, was er mir sagen wollte, noch nicht genau verstand, verstärkte sich das ungute Gefühl in meinem Magen. „Was... was willst du damit sagen?", fragte ich ihn und merkte, wie schwer es mir fiel, das Zittern in meiner Stimme vor Jake zu verbergen.

„Wir haben uns mittlerweile gut genug kennengelernt und deswegen finde ich es überflüssig, wenn wir uns außerhalb der Schule so viel sehen. Wenn wir hier und da einmal auf ein Date gehen, reicht das vollkommen, um den anderen zu zeigen, dass wir ein Paar sind. Wir kennen die Eltern des anderen und verstehen uns gut mit ihnen. Und falls sie mit uns über den jeweils anderen reden wollen, ist das auch kein Problem mehr, da wir ziemlich viel voneinander wissen. Und wer weiß, vielleicht triffst du bald den Typen, in den du dich wirklich verliebst oder ich treffe das perfekte Mädchen für mich, und dann wäre diese Beziehung ohnehin überflüssig."

Das, was er sagte, verschlug mir die Sprache. Warum tat er das? Was hatte nur dazu geführt, dass er sich nun so verhielt? Weshalb war er wieder so verdammt kalt und verschlossen? Wieso hatte er mich geküsst, wenn ich für ihn anscheinend doch nur ein Mittel zum Zweck war? Mir spukten unzählige Fragen im Kopf herum und ich überlegte kurz, ob ich sie nicht einfach alle stellen sollte, aber ein Blick in Jakes kalte, harte Augen lehrte mich eines Besseren.

Ich öffnete den Mund und ein „Okay" war alles, was meine Lippen verließ.

Für eine Sekunde – oder vielleicht auch zwei – sah er mir noch in die Augen, aber alles was ich in seinen Augen sehen konnte, war eine Kälte, die mich beinahe schon vor ihm zurückschrecken ließ. Hätte ich es nicht besser gewusst, hätte ich mich wirklich gefragt, ob das Jake war, der da vor mir stand. Nach diesen wenigen Momenten Blickkontakt drehte er sich aber auch ohne noch ein weiteres Wort um und ging mit langen Schritten die Einfahrt entlang zum Auto. Er stieg ein und startete den Motor, während ich ihm stumm dabei zusah.

In Filmen hatte ich diese Szenen immer als unrealistisch empfunden, in denen das Mädchen dem Jungen einfach hinterherstarrte, während er davonfuhr, obwohl er sie gerade zutiefst verletzt hatte. Jetzt allerdings... ich konnte die Reaktionen der Mädchen auf einmal total nachvollziehen.

Es war so, als könne ich mich förmlich nicht mehr rühren oder selbst einfach davon gehen – was vielleicht das Beste gewesen wäre, das ich in dieser Situation hätte tun können. Hätte ich mich direkt umgedreht und wäre ins Haus gegangen (oder wohl eher ins Haus geflüchtet), dann hätte ich nicht sehen können, wie die Scheinwerfer des schwarzen Mercedes immer kleiner wurden und schließlich verschwanden, als Jake um eine Kurve bog. Natürlich hätte das nichts an der Situation an sich verändert, aber vielleicht, nur vielleicht, hätte ich Jakes Verhalten dann besser verkraften können.

Als ich ihn so von mir wegfahren sah, wurde mir etwas klar. Ich konnte mir kein Leben mehr ohne Jake darin vorstellen. Auch wenn ich ihn noch nicht lange näher kannte, war er schon zu so einer Konstante für mich geworden, dass ich gar nicht mehr wusste, was ich ohne ihn tun sollte. Und als ich mir endlich eingestanden hatte, dass ich ohne Jake nicht mehr konnte, erkannte ich die komplette Wahrheit, die ich normalerweise schon viel früher hätte begreifen müssen.

Ich hatte mich in Jake verliebt. In meinen Fake-Freund.

Und es gab nichts, das ich jetzt noch dagegen tun konnte.

Ich war mir nicht sicher, wie lange ich noch da in unserer Einfahrt stand und einem Auto hinterherstarrte, das schon längst um die Ecke gebogen und aus meinem Sichtfeld verschwunden war. Im Nachhinein kam es mir wirklich wie eine Ewigkeit vor, aber es konnte gut sein, dass es nur ein paar Minuten oder sogar nur Sekunden gewesen waren. Irgendwann hatte ich meine Beine dann doch dazu zwingen können, sich zu bewegen und auch wenn meine Hände ziemlich zitterten, schaffte ich es nach ein paar Versuchen, die Haustür aufzuschließen.

Im Flur blieb ich erst einmal stehen. Ich wollte nicht, dass meine Mutter mich so sah, also beschloss ich, einfach in mein Zimmer zu verschwinden. Klar, ich würde ihr irgendwann erklären müssen, warum ich ihr nicht Hallo gesagt hatte, aber im Moment konnte ich nicht klar denken. Das, was Jake gesagt hatte, wiederholte sich in meinem Kopf nämlich immer und immer wieder, in einer unerträglichen Endlosschleife, der ich nicht entkommen konnte.

Es war nicht so, als würde ich diesen typischen, allumfassenden Herzschmerz spüren, durch den in Liebesfilmen immer so viele leiden, es war eher so, als würde ich gar nichts mehr spüren. Ich fühlte mich einfach unvollständig, beinahe leer. Diese gähnende Leere in mir machte mir nur umso deutlicher, dass etwas fehlte, und dieses etwas war nun mal Jake.

Allein beim Klang seines Namens in meinen Gedanken zog sich wieder alles in mir zusammen. Meine Augen brannten, ich weinte jedoch nicht. Ich hatte weinen schon immer gehasst, es als Zeichen der Schwäche empfunden, obwohl das doch eigentlich gar nicht stimmte. Wie in Trance schaffte ich es noch so gerade, mir die Schuhe auszuziehen und ließ mich dann aufs Bett fallen. Ich drehte mich auf die Seite und zog die Beine an den Körper. Mir war kalt, aber ich deckte mich nicht zu. Jetzt, wo ich einmal lag, glaubte ich nicht mehr, dass ich genug Kraft übrighatte, noch einmal aufzustehen, um mich mit der Decke zudecken zu können, auf der ich nun lag.

Jake hatte mit seinem Verhalten nicht nur unsere Freundschaft zerstört, er hatte auch etwas in mir zerstört, etwas, das die ganze Zeit schon nur ihm gehört hatte. Und als ich dann außen an meinem Schrank das dunkelblaue Kleid hängen sah, das ich zu Jakes Familienfeier getragen hatte, wurde alles zu viel und ich begann doch zu weinen.

PretendingWo Geschichten leben. Entdecke jetzt