Da wuchs die Bohnenstange riesengroß...

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Grover sah zu dem Schloss auf. Die Mauern waren von Rosenhecken bedeckt und man konnte nur noch gerade so die Giebel der Turmdächer entdecken. Überall in den Ranken hingen die leblosen Körper von Soldaten, Rittern und anderen mutigen Männern. Er schnaubte. Man kämpfte nicht gegen eine Rosenhecke. Da mochte die Prinzessin noch so schön sein. Der Satyr kramte in seinem Beutel. Da war sie; die kleine Bohne, die er sich für einen besonderen Moment aufgehoben hatte. Alles in seinem Körper brüllte, dass dieser Moment jetzt gekommen war. Also ging er so nahe wie möglich an die Mauer eines Turmes heran, ohne dass die Rosen ihn erwischen konnten, grub ein kleines Loch und pflanzte die Bohne ein. Er setzte er sich daneben auf den Boden. Nur Tage war es her, dass er beschlossen hatte, die Prinzessin zu finden. Nicht, weil er sie heiraten wollte, wie all die Toten in den Dornenranken. Nein, einfach weil er ein Satyr war. Und Satyrn waren Beschützer. Genau so jemanden würde die Prinzessin brauchen, wenn sie aufwachte. Es war nämlich genau 100 Jahre her, dass sie eingeschlafen war. Und wenn die Geschichten stimmten, dann würde das bedeuten, dass sie heute aufwachen würde. Plötzlich zitterte das Häufchen Erde über der Stelle, an der die Bohne vergraben war. Dann schob sich ein kleiner Schössling ans Licht und entfaltete zwei zarte kleine Blätter. Staunend sah Grover zu, wie die kleine Pflanze innerhalb von Sekunden zum Himmel aufschoss, immer dicker und dicker würde und sich schließlich oben um den Fensterrahmen eines Turmfensters wickelte. Begeistert klammerte er sich an die Bohnenstange, die nun so dick wie ein Bamustamm war und kletterte daran hinauf. Ohne auch nur in die Nähe einer Rosenranke zu kommen gelangte er zum Turmfenster und kletterte ins Innere des Schlosses. "Danke!", rief er der Bohnenstange zu und sah sich in dem Zimmer um, in dem er gelandet war. Ein Himmelbett stand in einer Ecke, daneben ein prächtiger Kleiderschrank und ein Schminktisch. Ein Paravent trennte den Raum. "Bingo!", entfuhr es ihm. Wenn das kein Prinzessinenzimmer war, wie es im Buche stand! Er sah sich im Zimmer um. Suchte hinter dem Paravent. Im Kleiderschrank. Keine Prinzessin. Also verließ er das Turmzimmer. Auf der Treppe musste er über ein schlafendes Mädchen steigen, doch ihrer Kleidung zufolge war sie eher eine Zofe oder etwas in der Art. Der Gang war lang und staubig, voller Spinnweben und der ein oder anderen Ratte. Er grüßte die Ratte und ging einfach irgendwo quer durch das Schloss. Vor manchen Türen lehnten schnarchend Wachen an ihren Hellebarden, ein Kammerdiener lag lang ausgestreckt auf dem Boden, vor ihm lag ein zersprungener Teller auf dem Boden. Vielleicht war mal etwas darauf gewesen, doch das hatten die Ratten schon vor Jahren aufgefressen. Es war gruselig, durch die stillen Gänge zu gehen, wo seit einem Jahrhundert niemand mehr gegangen war. Grovers Hufe klapperten so laut auf dem Steinboden, dass er fast Angst hatte, die Schlafenden aufzuwecken. Die Situation hatte etwas unglaublich Surreales. Plötzlich hörte er ein Geräusch. Er sah sich erschrocken um. Das war zu laut für eine Ratte gewesen, wie jemand, der mehrere Treppen auf einmal hinuntergesprungen war. Schritte waren zu hören, und sie kamen direkt auf ihn zu. "Hallo? Wer ist da?"
Wie gern er jetzt ein Schwert gezogen und in Richtung des Geräusches gehalten hätte. Er hätte sich gleich viel besser gefühlt. Aber er hatte kein Schwert. Tja, dumm gelaufen, Grover, dachte er bei sich. Am anderen Ende des Gangs tauchte jemand auf. Ein Mädchen. Sie hatte sehr kurze schwarze Haare, trug Hemd und Hosen und war barfuß. Grover fragte sich, ob das wirklich ein Mädchen war. "Wer bist du?"
"Ich bin Prinzessin Thalia, du Ziegenhirn."
"Du- ich meine, Ihr seid Prinzessin Thalia?"
"Problem damit? Lange Kleider, lange Haare... sobald ich aufgewacht bin, bin ich das Zeug losgeworden."
"Aber wenn Ihr wach seid... wieso schläft dann das restliche Schloss noch?"
"Dreh dich mal um." Hinter ihm rührte sich gerade gähnend die erste Wache.
"Ich bin glaube ich zu früh aufgewacht. Vor zwei Tagen schon. Zack, und wach. Also hab ich beschlossen, auf eigene Faust auszuziehen. Die Welt anschauen. Was sich verändert hat in 100 Jahren. Und dazu musste ich die Haare und das Kleid loswerden. Et voilá, hier bin ich. Immerhin hält mich jetzt keiner mehr für eine Prinzessin. Und was machst du eigentlich hier?"
"Oh. Na ja, ich dachte mir, eine Prinzessin könnte einen Beschützer gebrauchen. Und weil ich ein Satyr bin...", er kam sich plötzlich reichlich blöd vor. "Aber so wie es aussieht, braucht Ihr mich nicht."
"Ach Quatsch, komm doch einfach mit! Du kennst dich jetzt sicher besser aus als ich."
"Okay, na dann..."
"Warte, holen wir noch meinen Bogen aus der Waffenkammer. Und dann auf ins Abenteuer."
"Auf ins Abenteuer."
Plötzlich ging pfeifend ein blonder Junge mit einer Kuh vorbei.

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