Lacrimosa - Die Tränenreiche

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Bianca war sich sicher gewesen, dass sie tot war. Aber Nico hier zu sehen, machte die ganze Sache wirklich verwirrend. War er auch gestorben, ohne es zu bemerken? Lebte sie noch? Aber wo waren sie dann hier? "Du bist tot?", fragte Nico in ihre Gedanken hinein.
"Ja, dachte ich zumindest." Und jetzt wusste sie gar nicht mehr, was sie glauben sollte.
"Aber wie bist du gestorben?"
Erinnerungen überschwemmten sie. "Weißt du noch, der Tag an dem wir das letzte Mal gesehen haben?"
Nicos stummes Nicken zeigte, dass er seither an nichts anderes mehr gedacht hatte. Obwohl. Biancas Blick schweift kurz zu Will ab. Es schien fast so, als hätte ihr Bruder jemanden gefunden, an den er stattdessen denken konnte. Für einen Moment fühlte sie sich nicht mehr so schlecht, tot zu sein. Wenn sie es denn war. Dann bemerkte sie, dass sie ihre Geschichte noch nicht erzählt hatte.
"An diesem Tag bin ich nach draußen gegangen, um Feuerholz zu holen. Als ich also beim Holzstapel stehe, höre ich plötzlich ein Geräusch in den Büschen. Ich bin neugierig geworden und näher gegangen. Und irgendwas hat mich angegriffen. Ich habe nicht einmal erkennen können, was es war. Plötzlich war da die Wucht, mit der ich am Boden aufprallte und Blut und Schmerz. Und dann wurde ich durch den Wald gezerrt. Das nächste, woran ich mich erinnern kann, ist, dass ich auf dem Boden liege, vor Schmerzen unfähig mich zu bewegen. Und ich starre in den Himmel, vielleicht Minuten, Stunden. Dann wird alles dunkel. Und ich war mir so sicher, zu sterben. Aber ich war ganz ruhig. Die Schmerzen waren weg und ich hatte das Gefühl, frei zu sein. Dann bin ich aufgewacht. Hier. Ganz alleine. Ich hatte mich gerade damit abgefunden, dass ich tot bin und plötzlich kommst du - kommt ihr - daher."
"Das heißt, du bist tot und wir sind irgendwie in die Totenwelt gelangt...", flüsterte Nico.
"Ja. Aber wie?", fragte Bianca.
Und dann begann Nico zu erzählen. Er erzählte von den beiden Tagen, die er alleine im Wald gesucht hatte. Dann davon, wie er Will getroffen hatte. Wie sie gemeinsam weitergesucht hatte. Dann, leise, erzählte er, wie er sich in Will verliebt hatte. Wie sie schließlich all die anderen getroffen hatten, die Spange gefunden hatten und schließlich auch das Haus. Und dann erzählte er von Grimm. Von den Bildern, von der Wiese, dem Gewitter. Wie sie Bianca schließlich gefunden hatten. Und plötzlich passierte etwas. Es war ein Geräusch, als ließe man die Luft aus einem Luftballon. Plötzlich veränderte sich alles. Alles begann sich zu drehen. Bianca schien zu erkennen, dass ihre Zeit zu Ende war. "Nico, ich will nicht, dass du mir nachtrauerst. Lebe dein Leben. Ich bin tot und daran kann man nichts ändern. Und Will-", langsam lösten sich der Fluss, die Wiese und auch Bianca auf, "Will, pass auf meinen Bruder auf!" Und sie war weg. Alles war weg. Nico und Will standen in einem riesigen, weißen Raum. Sie sahen sich an. "Was ist passiert?", fragte Will verwirrt.
Tränen standen in Nicos Augen. "Sie ist tot..." Und alles brach aus ihm heraus. Er begann, hemmungslos zu schluchzen. Tränen liefen in Sturzbächen über seine Wangen. Kraftlos sank er zu Boden. Alle Hoffnung, seine Schwester zu finden, war verpufft, als er sie gefunden hatte. Weil sie tot war. Tot, tot, tot. Er konnte doch nicht schon wieder jemanden verlieren. Er konnte doch nicht allein sein... Will umarmte ihn. Er war neben ihm auf die Knie gesunken und drückte ihn an sich. Sanft strich er durch Nicos Haare, der seinen Kopf in seiner Schulter vergrub. Nein. Er war nicht allein. Vielleicht waren es nicht mehr dieselben Leute, die da waren, aber es war jemand da. Will begann leise zu reden. "Weißt du, als ich Bianca vorhin gesehen habe, hatte ich das Gefühl, nicht mehr gebraucht zu werden. Weil du sie wiedergefunden hast. Weil ich ja nur helfen sollte, sie zu finden. Aber dann habe ich bemerkt, dass du mich nicht nur dafür brauchst. Dass ich nicht nutzlos bin. Und ich brauche dich genauso, weißt du. Sonst würde ich noch mit einem Mühlstein durch den Wald ziehen. Bianca ist vielleicht tot, Nico, aber sie ist nicht weg. Und ich auch nicht. Und ich verspreche dir, ich werde nicht gehen."
Nico löste sich aus seiner Schulter und sah ihm in die Augen. "Natürlich werde ich dich immer brauchen, Will. Siehst du nicht, wie ich alles verliere, außer dir? Nicht einmal meine Axt ist noch da... Aber du bist geblieben. Und du hast recht. Sie ist nicht weg. Danke."
Und so zog er ihn an sich und küsste ihn zum dritten Mal. Lange, viel länger als zuvor. Der Kuss schmeckte salzig nach Tränen.

"Hä, Lacrimosa - Die Tränenreiche, was soll das heißen, Luna?", fragen sich jetzt die unter euch, die nicht solche Musikstreber sind wie ich. So nennt man einen Teil eines Requiems (Totenmesse). Das bekannteste ist von Mozart, ich hab es oben eingefügt. Vielleicht kennt ihr es ja. Ich hör jetzt auf mit Klassik zu nerven.
Eure
Luna_Levesque

Helden des MärchenwaldesWo Geschichten leben. Entdecke jetzt