Lass dein Haar (mit einem Scherenstreich)

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"Sieben auf einen Streich", selbstzufrieden schwang Leo die Fliegenklatsche. "Boo-yah, ihr Fliegen. Leo ist euer Tod!"
Die toten Fliegen antworteten natürlich nicht. Leo seufzte. Dann machte er sich wieder ans Werk. Wie jeden Tag schmiedete er. Kling, klang, kling, klang. Langweilig, öde. Er fühlte sich eingesperrt in seinem Leben. Er musste hier weg. Die Räder in seinem Kopf begannen zu arbeiten. Es musste doch möhlich sein... Sofort schnappte er sich seinen Hammer. Schon wenig später hielt er stolz das Ergebnis seiner Arbeit in den Händen: Ein Werkzeuggürtel, in den die Worte "Sieben auf einen Streich" eingebrannt waren. Und damit begann er eine Reise, auf der er Riesen besiegte, Eber jagte und Einhörner überlistete. Doch das Wichtigste passierte erst danach. Denn glücklich wurde man nicht als Trickbetrüger. Er hatte die Hochzeit mit einer Prinzessin abgelehnt und zog jetzt auf der Suche nach einem neuen Abenteuer durch den Wald. Plötzlich hörte er eine Stimme. Leise ging er in die Richtung und versteckte sich hinter einem Baum. Auf einer Lichtung stand ein Turm. Seltsamerweise besaß er keine Tür und nur ein Fenster in schwindelerregender Höhe. Unten stand ein Mann und sah zu dem Fenster hinauf: "Calypso, lass dein Haar herunter!"
Sofort fiel ein langer, geflochtener Zopf aus dem Fenster und der Mann kletterte daran hinauf. Fasziniert musterte Leo die Haare, als der Mann sich über den Fenstersims schwang und sie wieder im Turm verschwanden. Wem die wohl gehörten? Er beschloss, das herauszufinden. Also setzte er sich ins Gebüsch und wartete. Nur ein blonder Junge mit einem Schwein kam vorbei. Als die Sonne schon fast hinter den Bäumen verschwunden war, verließ der Mann auf dem selben Weg, den er gekommen war, den Turm wieder. Sobald er außer Sichtweite war, verließ Leo sein Versteck und stellte sich unten vor den Turm. "Calypso, lass dein Haar hinunter!"
Sofort fiel der Zopf aus dem Fenster. Er kletterte daran herauf. Oben angekommen stieg er auf das Fensterbrett, wo ihn sofort ein Mädchen am Kragen packte und gegen die Wand drückte. "Wer bist du?"
Er schnappte nach Luft: "Der... tapfere... Leo! Lass mich los!"
Sie ließ ihn los und schnaubte. "Tapfer."
Mit funkelnden Augen musterte sie ihn, der sich taumelnd wieder aufrichtete.
"Verstehe. Ich bin Calypso. Und wenn dir dein Leben lieb ist, wirst du mich aus diesem Turm befreien. Jetzt."
Bei den letzten Worten kam sie ihm so nahe, das er wieder an die Wand zurückweichen musste. "Wie stellst du dir das vor?"
Er wich ihrem stechenden Blick aus und musterte ihre langen, zimtfarbenen Haare. "Warte... Was meinst du, brauchst du die noch?", er gestikulierte in Richtung ihres Zopfes.
Sie schnaubte. "Nein. Aber hier drin gibt es keine scharfen Gegenstände."
Sie deutete in den spärlich eingerichteten Raum, in dem sie standen.
"Das lass mal meine Sorge sein."
Grinsend zog er eine Schere aus seinem Gürtel und setzte an ihren Haaren an. "Wie lang will die Dame sie?"
"Möglichst kurz."
Mit aller Kraft schnitt er denn Zopf ab, der so dick war, dass man ihn locker als Seil verwenden konnte. Und genau das hatte er vor. "Wer hat dich überhaupt hier eingesperrt?", fragte er, als Calypso ihren Kurzhaarschnitt glücklich im Spiegel betrachtete, während er den Zopf an einem schweren Kasten festband.
"Das war Zeus. Er ist der neue König des Königreiches meines Vaters und wollte mich loswerden."
"War das der Typ, der hier vorhin war?"
"Nö, das war Hermes. Sein Sohn. Netter Kerl, aber befreien wollte er mich nicht."
Ein paar Sekunden herrschte Stille, als Leo den Zopf aus dem Fenster warf.
"Was hat es eigentlich damit auf sich, dass du dich "Der tapfere Leo" nennst?"
Er schnaubte traurig, als er der fallenden Haarpracht nachsah. "Ich bin ein mieser Betrüger. Erzähle allen, ich hätte was tolles erreicht. Sieben auf einen Streich", er tippte auf seinen Gürtel. "Das waren Fliegen. Den Leuten erzähle ich, es wären Riesen gewesen. Ich habe alle überlistet. Riesen. Könige. Eber. Einhörner. Sogar bei der geplanten Hochzeit mit der Prinzessin bin ich einfach abgehauen."
"Und wieso hilfst du mir jetzt?"
Sie standen am Fensterbrett und sahen in die Tiefe, wo das Ende des Zopfes kurz über dem Boden baumelte. "Du bist eingesperrt. Ich war auch mal eingesperrt. In meinem Leben. Und jetzt kann ich dir helfen, freizukommen, so wie ich. Und vielleicht machst du was besseres draus."
"Komm doch mit!"
Er sah sie erstaunt an. "Du willst einen Betrüger als Begleitung?"
"Ist doch sicher aufregend! Mein Leben war bisher Turm, Turm, Turm. Da kann ich ein paar Riesen schon mal vertragen."
Er lachte auf. "Na dann."
Und sie schwangen sich beide aus dem Fenster, kletterten hinunter in die Freiheit. Ins Abenteuer.

Für alle die sich wundern: Der zweite Teil von "So weiß wie Schnee" kommt noch. Keine Sorge. Bis nächste Woche!
Eure
Luna_Levesque

Helden des MärchenwaldesWo Geschichten leben. Entdecke jetzt