38

77 10 1
                                    

165 Stunden nach
Chittaphons Verschwinden

,,Wir müssen stark sein", hörte ich noch immer Chittaphons Mutter zerbrechlich zu mir sprechen.
Die letzten Tage hatten sie wirklich zu schaffen gemacht.
Ihre Wangen eingefallen, die Haut verblasst, die sommerliche Bräune schien nicht mehr so gesund, wie noch vor nicht allzu langer Zeit.

Gewichtsverlust, gefüllte Gedanken, zerstörte Hoffnungen.
Sie war seelisch zerstört.
Hätte ihr jemand raushelfen müssen, aus diesem ewigen Loch der Auswegslosigkeit und der Sackgasse tief in ihrem noch schlagenden Herzen, wäre es nur für einen einzigen noch möglich gewesen.
Chittaphon selbst hätte die Sache in die Hand nehmen müssen, ihr Zuneigung und Liebe schenken sollen, bevor sie wie ein zu Boden gefallenes Glas zersplittern würde.

Nicht mehr lange, dann könnte selbst ich sie nicht mehr aufrecht halten, dabei war sie selbst noch so jung, strebte nicht mal die vierzig an.
,,Das ganze Leben steht dir doch noch bevor", würden die Senioren im Altersheim vorgaukeln, die selbst noch zur Runden achtzig feierten, wie einst in ihrer Jugend.

Doch wenn dir ein so großer Verlust auf dem Herzen liegt, kann es nichts mehr wieder gut machen.
Vergessen wirst du nie.
Wie könnte man auch seinen eigenen Sohn vergessen?
Selbstironische Frage.
Dabei steckte doch gerade ich in dieser Lage.
Ich lebte, wie man sehen konnte, doch für meine Eltern war ich ein Niemand.
Man würde von Glück sprechen, wenn sie sich noch an meinen Namen erinnerten.

Die Erwachsenen, die ich in meiner Kindheit ,,Mama" und ,,Papa" nannte, lebten noch irgendwo auf diesem blauen Planeten, der sich um einen Feuerball drehte.
Da draußen hatten sie sich ein neues Reich erschaffen, bauten ihre neue Zukunft auf, ohne mich.
Selbst in der Gegenwart wusste ich nicht, was ich in meiner Kindheit falsch gemacht hatte, dass mich diese Monster so grausam sitzen lassen konnten.
An meinem achten Geburtstag.

,,Das Einzige, was sie tun müssen, ist uns zu sagen, ob das der Verdächtige ist, nach dem wir suchen."
Changmin, der höhergestellte Kriminalpolizist von den beiden Kollegen, linste durch den Rückspiegel zu mir.
So perfekt, dass ich für einen Moment glaubte, er hätte schon vorher die Einstellungen am Spiegel so vernommen, dass er mich nur hätte ansehen können.

Auf der Rückbank des Kriminalwagens sitzend, starrte ich hinunter auf meine Finger, die ich nervös zu kneten begann.

Keine Nummer von Jaehyun war mir bekannt, keine Bilder, die ich den Polizisten hätte zeigen können.
Selbst als sie im Telefonbuch unter seinem Namen eine Nummer fanden, nahm er den Anruf nicht ab.
Sein Motiv vergrößerte sich allmählich.

Die Polizisten fanden immer mehr Ähnlichkeiten zu den Fällen des Versteckspielers und glaubten, Chittaphon sei ebenfalls darin verwickelt, doch in mir blieb ein Stückchen Hoffnung, dass es ,,nur" sein Kumpel gewesen war, der ihn im Keller eingesperrt hatte und wir ihn gleich rausholen konnten.
(Auch wenn selbst diese Schandtat unbegreiflich gewesen wäre.)

Ich wollte es nicht wahrhaben, dass mein Freund von einem richtigen Serienkiller entführt wurde.
Noch schlimmere Emotionen kehrten in mich, als ich daran dachte, dass Jaehyun unter Umständen dieser Mörder sein könnte.
Seine Vorbestrafung sprach ihm nichts Gutes zu.

Abschnallen des Gurtes ertönte im Auto, als wir vor dem Haus standen, wo ich einst an Silvester mit Chittaphon feierte. Kaum zu glauben, dass diese Party knappe drei Wochen her war.

Die Treppenstufen erkannte ich, die diesmal in der leichten Abendsonne schimmerten, wie die Sterne am Himmel in jener Nacht.
Vor wenigen Minuten hatte es noch in Strömen geregnet, wodurch man die vielen Pfützen beim hinlaufen nicht vermeiden konnte.
Windböen so stark, wie eine Mannschaft von Boxern, die gegen dich ankämpften. Du hattest nur eine beschränkte Chance.
Die Aura so einschüchternd, bedrückend und trübselig.
Der erste Tag in der Woche, wo sich das Wetter an meine derzeitige Laune angepasst hatte.

Sie sollte jedoch nicht lange so verbleiben, sondern wandelte sich um in Wut und Zorn, als ich in die Augen Jaehyuns guckte.
Die Augen eines Verbrechers.
Die Augen eines Mörders.

Der Versteckspieler  | TaetenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt