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Wenn die Sonne aufgeht und das goldene Licht sich in den riesigen Glasfenstern spiegelt, sehe ich es von meinem Erkerfenster aus.
Man könnte meinen, ich kenne jede Ecke, jede Verzierung und jedes noch so kleine Türmchen des Schlosses auswendig, so oft habe ich es gesehen. Schon als Kind habe ich davon geträumt, einmal diesen Palast betreten zu dürfen. Die weißen Marmormauern zu berühren, die Flügeltüren zu öffnen, in eine andere Welt zu einzutreten.
Doch jetzt kommt es mir beinahe fremd vor. Fremd, aber schön wie immer. Ich stehe vor dem meterhohen Tor, das mir den Zugang zur Brücke versperrt. Die goldenen Gitterstäbe ragen hinter den beiden Männern, die mit ernsten Mienen den Eingang bewachen, in den wolkenlosen Himmel. Das Schloss liegt auf einer winzigen Insel, die Duniya vorgelagert ist. Nur durch eine Brücke ist es zum Festland verbunden. Nebel umhüllt den Fuß der Insel, die Wellen, die an den schroffen Klippen brechen, verschwinden darin.

Ein Wachmann in dunkelblauer Uniform, baut sich vor mir auf und versperrt mir die Sicht. Auf Herzhöhe ist das Wappen Duniyas aufgestickt; ein halber Mond, eine halbe Sonne. Tag und Nacht, Licht und Dunkelheit.
„Dürfte ich den Grund ihrer Anwesenheit erfahren?" Seine Stimme ist höflich, aber kalt und vor Nervosität werden meine Handflächen ganz schwitzig.
„Heute ist mein Ewar und ... und die Königin hat mich dafür ins Schloss gebeten", antworte ich und ärgere mich sofort, dass ich stottern muss.
Kurz sieht mich der Wachmann verdutzt an, dann lacht er schallend.
„Kreativer Einfall, glaub mir Mädchen, ich hab' schon einiges gehört, aber das ist mir neu." Erneut lacht er und wendet sich zu seinem Kollegen um, der, ebenfalls mit Speer bewaffnet, grimmig in die Ferne schaut, bisher aber noch keinen Mucks von sich gegeben hat.
„Hast du das gehört, Gadeo?", bellt der Wachmann. Dieser nickt. „Lustig die Kleine, was?" und daraufhin lachen beide los.
Fassungslos blicke ich zwischen den beiden hin und her und merke, wie sich in mir eine gewaltige Wut aufbaut.
„Entschuldigen Sie, aber was gibt es da zu lachen? Ich wurde von Königin Charis persönlich hierher gerufen, es wäre also sehr freundlich von Ihnen, wenn Sie mir das Tor öffnen könnten", bemerke ich und mache einen Schritt in seine Richtung.
Die Wachen reagieren sofort und kreuzen ihre Speere vor mir, ihr Lachen ist verstummt.
„Wenn das so ist, zeig mir doch bitte deine Bestätigung, dass du einen Termin bei der Königin hast." Die Stimme des Manns trieft nur so vor Spott und seine Augen funkeln höhnend.
Mit zittrigen Fingern ziehe ich den Brief der Königin aus meiner Umhängetasche und drücke ihn dem Wachen in die Hand. Ich sehe, wie seine Augen die kurzen Zeilen entlangwandern und sich erstaunt weiten.
Dann räuspert er sich kurz und deutet seinem Kumpanen, das Tor zu öffnen. Mit triumphierendem Lächeln nehme ich ihm meine persönliche Einladung ab und stolziere durch das geöffnete Portal. Wenige Augenblicke später finde ich mich auf der Steinbrücke wieder, die zum Schloss führt.

Das kurze Gefühl des Triumphs verschwindet so schnell, wie es gekommen ist und erneut macht sich die Aufregung in mir breit.
Ich habe keine Ahnung, warum die Königin mich ins Schloss diktiert hat und ob es etwas mit meinem Ewar, dem Tag der Enthüllung, zu tun hat. Das Gefühl der Ungewissheit macht mich inzwischen verrückt, seit drei Tagen wälze ich mich abends schlaflos im Bett, weil ich an nichts anderes mehr denken kann.
Und jetzt ist es soweit.
Ein letztes Mal ziehe ich den Brief, den mir Königin Charis vor drei Tagen geschickt hat, aus dem Kuvert. Das rote Siegel ist bereits gebrochen, die Kanten des ehemals blütenreinen Umschlags abgegriffen, so oft habe ich Charis' Worte an mich überflogen.
Ich kenne sie schon auswendig.

Liebe Clarice Ovun,
Ich wünsche Dir alles Gute zu deinem sechzehnten Geburtstag, auch wenn Dich dieser Brief schon einige Tage vor Deinem Ewar erreichen wird.
Ich schreibe Dir nicht ohne Grund. Am sechzehnten November, Deinem Tag der Enthüllung, bist Du herzlich zu mir in den Palast eingeladen.
Ich möchte Dir noch nicht mehr verraten, freue mich aber schon auf Dein Erscheinen um zwei Uhr nachmittags.
Richte Deinen Eltern schöne Grüße aus.
Hochachtungsvoll,
Königin Charis

SchattenmächteWo Geschichten leben. Entdecke jetzt