XXVI

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Am nächsten Morgen werde ich durch die Sonnenstrahlen geweckt, die sich einen Weg durch das Fenster bahnen und direkt auf mein Gesicht fallen. Ich bin schon wieder eingeschlafen, liege auf Arkyns Bauch, während meine Oberschenkel am Sessel festkleben.
„Guten Morgen", flüstert Arkyn und betrachtet aufmerksam mein Gesicht.
Laut gähnend richte ich mich auf und strecke meine verkrampften Glieder.
„Wie spät ist es?", nuschle ich und versuche meine Haare mit den Fingern zu bändigen. „Keine Ahnung, aber die Ratsmitglieder können jeden Moment hier sein", antwortet Arkyn.
„Was? Welche Ratsmitglieder?", murmle ich und reibe mir den Schlaf aus den Augen. Meine Haare stehen bestimmt zu Bergen und so wie Arkyn mich anstarrt, tippe ich auch auf Augenringe. Na super.
„Heute kommen die Mitglieder des Dunklen Rats und die Königin vorbei, um die weitere Vorgehensweise zu besprechen, schon vergessen?", meint Arkyn und vor Schreck falle ich beinahe vom Sessel, was er mit einem leisen Lachen quittiert.
Tatsächlich habe ich total verdrängt, dass die Königin jetzt schon – nur vier Tage nach dem schrecklichen Erlebnis im Schattenwald – über die weiteren Pläne sprechen will.
„Meinst du wirklich, dass sie jederzeit da sein können?"
Mit einem Satz bin ich am Fenster und lassen den Blick über das taubedeckte Gras Richtung Anwesen wandern. Keine Spur von irgendwelchen Ratsmitgliedern.
„Eigentlich war es so ausgemacht", meint Arkyn von seinem Bett aus und ich lasse meinen Blick zurück in den Raum gleiten.
Auf dem kleinen Holztisch türmt sich Verbandszeug und in der winzigen Küche das schmutzige Geschirr. Beinahe kann ich schon das missbilligende Tsss von Frau Hakennase hören. Als ich mich auf die Unordnung stürze und hektisch beginne, Verbandszeug in eine Truhe zu stopfen, lacht Arkyn leise im Hintergrund.
„Willst du nicht mithelfen?", zische ich ihm spaßeshalber zu, auch wenn mir eigentlich nicht danach zumute ist. In Windeseile wische ich den Tisch mit einem feuchten Lappen ab und begutachte dann den Stapel Geschirr in der Küche. Wie in aller Welt soll ich es schaffen, zum Brunnen zu laufen, um Wasser zu holen und diesen Riesenberg abzuwaschen?
„Ich glaube, es gibt größere Probleme als die paar Teller", meint Arkyn und erst als er mit dem Kinn in Richtung meiner Haare nickt, wird mir klar, was er meint.
Idiot, denke ich, aber ich sage es nicht, weil er ja so schwerverletzt ist.
Da ich aber tatsächlich darauf verzichten kann, dass Zinariya oder Frau Hakennase oder gar beide mein blondes Krähennest erblicken, krame ich eine Bürste aus einer der Truhen hervor. Es knistert leise, als die Borsten durch mein Haar gleiten.
Als ein lautes Pochen an der Tür ertönt, bekomme ich das zweite Mal an diesem Morgen beinahe einen Herzinfarkt und werfe vor Schreck die Bürste achtlos zurück in eine der Truhen.

Im nächsten Moment steht Königin Zinariya auch schon im Raum, hinter ihr eine Traube aus allen Mitgliedern des Rates. Aus großen Augen blicken sie in unsere Richtung, tuscheln leise und begutachten Arkyns verbundene Arme und die Kratzer in seinem Gesicht und am Hals.
„Kommen Sie herein", sage ich etwas tollpatschig; immerhin stehen sie ja alle schon im Zimmer. Während der kleine Raum sich füllt und Arkyn sich mit schmerzverzogenem Gesicht im Bett aufrichtet, erkundigen sich ein paar Ratsmitglieder nach seinem Gesundheitszustand und suchen sich Plätze zum Sitzen. Es gibt genau zwei Stühle im Raum, die die Königin und Herr Wal für sich beanspruchen. Die anderen Gestaltenwandler finden auf den Truhen Platz oder bleiben stehen. Ich lasse mich vorsichtig neben Arkyn am Bett nieder. Alle Augenpaare sind auf uns gerichtet und ich rutsche nervös auf der Bettkante hin und her.
„Wir haben uns heute wegen des Vorfalls letzten Dienstag eingetroffen, um weitere Vorgehensweisen zu besprechen", beginnt die Königin und Stille legt sich über die kleine Gruppe. „Es ist mir bewusst, dass Clarice und Arkyn Schreckliches zugestoßen ist, das so nicht hätte passieren dürfen, aber darf das wirklich der Grund sein, unseren Plan hiermit abzubrechen?"
Fragend blickt sie in die Runde und ich weiche ihren eisblauen Augen aus, die mich zu löchern scheinen.
„Ich möchte eure Meinungen hören", fordert sie und Herr Wald hebt die Stimme.
„Ich bin ganz Eurer Meinung, Königin Zinariya", beginnt er, „Wir haben keine andere Wahl, als uns in diesen Wald zu trauen, um einen Weg zum Tor zu finden."
Die junge Frau mit den haselnussfarbenen Haaren, die mir schon bei meinen ersten Versammlungen aufgefallen ist, löst sich aus dem Schatten der Leiter in das Dachgeschoss. Ein paar Fransen ihres kinnlangen Haars hängen ihr in die Stirn und ein verwegenes Lächeln klebt ihr auf den Lippen, als sie ihre Worte an Herr Wal richtet: „Du warst ja nicht einmal dort draußen. Wir können froh sein, dass die beiden noch leben; dir würde ich keine fünf Minuten dort draußen geben. Mit diesen Extrakilos auf den Rippen wärst du jedenfalls ein gefundenes Fressen für die Todträgerinnen."
Herr Wal schnappt empört nach Luft und ich erwarte schon sein Gezeter, doch es bleibt überraschenderweise aus. Von Herr Wals speckigem Gesicht aus wandert mein Blick weiter zu der jungen Frau an der Leiter. Sie scheint nur ein paar Jahre älter zu sein als ich. Als sich unsere Blicke kreuzen, zwinkert sie mir kurz zu. Ihre Augen funkeln haselnussfarben im Morgenlicht.

Dann setzt auch schon eine richtige Diskussion ein. Die meisten Mitglieder wollen die Mission, wie sie es nennen, fortsetzen, ein paar andere sind dagegen. Wie Zuschauer eines Theaters verfolgen Arkyn und ich die Wortwechsel.
Nach einer Weile unterbricht Königin Zinariya die Auseinandersetzung und lässt ihren Blick zwischen Arkyn und mir hin und her pendeln. „Was wollt ihr?", fragt sie uns und ich reiße verdattert die Augen auf. Um nichts in der Welt hätte ich geglaubt, dass unsere Meinung berücksichtigt werden würde.
Arkyn räuspert sich. „Wir werden die Mission nicht beenden, dafür sind wir schon zu weit gekommen." Jetzt gilt mein erstaunter Blick ihm und nicht Zinariya.
„Wir wären da drin beinahe getötet worden, falls du es noch nicht vergessen hast?", entrüste ich mich und im Augenwinkel erkenne ich die junge Frau mit den kurzen Haaren, die grinsend die Arme vor der Brust verschränkt. Das verwirrt mich zusätzlich noch ein bisschen. Es wirkt echt, aber mehr genüsslich als nett.
Ich will gerade fortfahren, als Arkyns ernster Blick mich verstummen lässt.
„Unsere Freiheit ist es wert, sein Leben dafür zu riskieren." Dann wendet er sich den anderen Gestaltenwandlern zu. „Wir werden, sobald ich mich erholt habe, die Mission wieder aufnehmen."
Ein paar Gestaltenwandler beginnen zu klatschen, die junge Frau betrachtet Arkyn schweigend. Das Lächeln tropft ihr von den Lippen, ihre Augenbrauen verdichten sich, aber es ist unmöglich, irgendetwas aus ihrem Blick zu lesen. „Dann ist es also beschlossene Sache", meint die Königin ruhig und die anderen sehen ihre Worte als Zeichen, aufzubrechen.
Nach und nach verlassen die Mitglieder den Raum und ziehen wieder Richtung Schloss, beinahe im Gleichschritt gehend. Die junge Frau ist die Letzte, die sich von der Mauer löst und den anderen folgt. Bevor sie zur Tür raus ist, dreht sie sich noch einmal um.
„Du würdest wirklich alles tun, um zu überleben", wispert sie Arkyn zu und ich versuche, irgendwelche Emotionen aus ihrem Gesicht zu entnehmen. Ist es Bewunderung? Oder doch Schmerz? Erst als sie verschwunden ist, nehme ich die winzige Regung in Arkyns steinerner Miene wahr. Das kurze Aufflackern von Reue.
Mein Blick fällt aus dem Fenster, wo Königin Zinariya die Gruppe aus Ratsmitgliedern anführt, die Richtung Anwesen zieht. Die lange Schleppe ihres Kleides breitet sich über dem feuchten Gras aus wie eine schwarze Tauschicht. Ein paar Handwerker kommen ihnen entgegen und weichen sofort zur Seite, als der königliche Trupp vorbeizieht.
Ich erkenne Xanthios blonden Lockenkopf und selbst aus fünfzig Metern Entfernung nehme ich den müden Blick in seinen Augen wahr. Er hält einen Werkzeugkoffer in der Hand, die Schultern gebeugt und die Haut ganz blass.

„Du willst wirklich wieder in den Wald?", frage ich Arkyn, den Blick immer noch aus dem Fenster gerichtet. Es ist mehr eine Feststellung als eine Frage.
Als ich der trüben Fensterscheibe den Rücken zuwende, sieht mich Arkyn ernst an, seine Augen sind dunkel und unergründlich wie immer.
„Ja", sagt er bloß, „Bist du so naiv, dass du tatsächlich denkst, wir würden freikommen, ohne uns diese Freiheit zu erkämpfen? Die einzige Möglichkeit ist es, einen Weg zum Ausgang zu finden."
„Das ist kein Grund, mich so anzufahren", sage ich bestimmt, „Ich sitze im selben Boot wie ihr alle!"
Sobald die Worte meine Lippen verlassen haben, würde ich sie am liebsten auch schon wieder zurücknehmen. Niemand sitzt im selben Boot wie ich.

SchattenmächteWo Geschichten leben. Entdecke jetzt