XXXIV

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„Siehst du den riesigen Baum dort? Stützpunkt fünf, was meinst du?", schlage ich vor. Meine Stimme benutze ich so sparsam wie möglich; jedes unnötige Wort lasse ich weg.
Arkyn nickt und ich male ein baumähnliches Etwas auf unsere Karte und schreibe eine Fünf daneben.
„Wie lange gehen wir schon in etwa?"
„Zirka zwanzig Minuten. Ich habe das Gefühl, dass wir wirklich bald das Tor erreichen könnten", meint er und mein Herz macht vor Aufregung ein paar Hüpfer.
Wir passieren den Baum und schlüpfen unter den klauenartigen Ästen hindurch, in denen sich meine Haare beinahe verfangen. Als eine Krähe sich lautkrächzend aus der Baumkrone erhebt, zucke ich so erschrocken zusammen, dass Arkyn leise lachen muss.
Mein Blick flattert zu ihm, doch er hat den Kopf bereits weggedreht, die Augen fest auf den Kompass gehaftet. Seine Stirn ist konzentriert gerunzelt und ein paar Strähnen seiner dunklen Haare hängen ihm in die Stirn. Mit den Augen zeichne ich sein Profil nach. Die schmale Nase hinunter zu den geschwungenen Lippen und die markante Kinnlinie nach oben. Als er den Kopf wieder hebt, senke ich sofort die Lider und starre konzentriert auf die Karte in meinen Händen.
Ich sollte froh sein, dass wir den Streit heute Morgen vergessen haben und wieder ein Team sind; nicht mehr und nicht weniger. Ein Team mit demselben Ziel, auch wenn wir einen unterschiedlichen Gebrauch dafür haben. Arkyn will das Tor finden, um irgendwann mit den Gestaltenwandlern ausbrechen zu können. Ich will das Tor finden, um bald schon selbst auszubrechen.
Wir setzen schweigend unseren Weg fort, in Gedanken versunken und gleichzeitig wachsam. Würde uns so kurz vor dem Ziel etwas zustoßen, wäre das unverzeihlich. Auch wenn ich mit den Augen die Umgebung absuche, bin ich in Gedanken bei meinen Eltern. Ein warmes Kribbeln durchströmt meinen Körper, als ich realisiere, dass ich mich ihnen mit jedem Schritt nähere. Die Distanz schrumpft; irgendwann wird sie überbrückt sein und ich in ihren Armen liegen.
Auf einmal scheinen auch die Bäume zur Seite zu rücken, als würden sie vor uns zurückweichen. Wir sind diejenigen, die den Schattenwald bezwungen haben. Man sollte Angst vor uns haben. Ich bin mir nicht sicher, ob es nur Einbildung ist, aber nun scheinen auch einzelne Lichtstrahlen ihren Weg durch die Dunkelheit zu finden. Als goldene Lichtpunkte auf meine Arme fallen, halte ich an. Fasziniert betrachte ich meine strahlende Haut und als ich den Kopf hebe und Arkyn erblicke, quillt mein Herz über. Im weichen Licht sind seine Augen nicht onyxfarben, sondern goldgefleckt wie flüssiger Honig.
Mein Blick gleitet über seine rechte Schulter und als ich erkenne, was sich dort aufbaut, setzt mein Herz einen Moment lang aus. Arkyn lächelt, als er sich umdreht, und wir machen zeitgleich unsere letzten Schritte auf die Zielgerade zu.

Morsche Holzstückchen geben unter unseren Füßen nach, das Blut dröhnt mir durch die Ohren und dann sehe ich es. In etwa zehn Meter Entfernung funkeln die Stäbe verheißungsvoll im Sonnenlicht, zwei Wachen stehen mit dem Rücken zu uns auf der anderen Seite und die saftiggrünen Hügel Duniyas erscheinen im Hintergrund.
Das Tor.
Automatisch drehe ich mich zu Arkyn, über dessen Gesicht eine Emotion nach der anderen wandert. Es dauert nur eine Sekunde, bis seine Miene wieder ernst wird.
„Das Tor", flüstere ich, weil ich nicht fassen kann, dass er so ruhig bleibt. Ich will jubeln und schreien und tanzen und nie wieder zurück zu den anderen Gestaltenwandlern.
„Das Tor. Das Tor. Das Tor."
„Ich weiß", seufzt er und ich zucke zusammen, als er nach meiner Hand greift. Als ich feststelle, dass er nur die Karte aus meinem festen Griff gelöst hat, werde ich rot.
Gemeinsam beugen wir uns über das Pergament und ich sehe zu, wie er das Tor aufmalt. Er hebt den Blick, bevor er zu schreiben beginnt, und ich lächle vorsichtig. Erst als er den letzten Buchstaben auf Papier gebracht hat, sehe ich, dass dort in großen, geschwungenen Lettern Freiheit steht.
„Zurück in die Gefangenschaft, was?", flüstere ich und mein Herz wird weit und schwer bei dem Gedanken, dass wir wieder umkehren müssen.
„Nein", antwortet Arkyn leise, „Zurück zu unseren Brüdern und Schwestern."

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Der Schattenwald verschlingt uns erneut, die Finsternis umhüllt uns wie ein Mantel und wir lassen es geschehen. Die schwarzen Bäume kriechen bedrohlich näher, das Licht hat längst keine Chance mehr gegen die unendliche Dunkelheit.
Als wir beim See ankommen, muss ich mir innerlich Mut zusprechen, um nicht auszuflippen. Hier wäre ich beinahe gestorben, denke ich. Und auf der Lichtung wären wir beide beinahe gestorben. Und mehr als einmal wären wir beinahe gestorben, als uns Todträgerinnen, von denen es Tausende zu geben scheint, angriffen.
Ein hysterisches Lachen entweicht mir und Arkyn mustert mein Profil von der Seite. Ein leises Rascheln im Gebüsch hinter mir, lässt mich herumfahren. Ich lasse meinen Blick suchend durch die Umgebung schweifen, aber Arkyn zieht mich weiter. „Sei nicht paranoid, wir haben's bald geschafft. Gleich werden wir bei der Lichtung sein."
Ich folge ihm, aber ich werde das seltsame Gefühl nicht los, beobachtet zu werden.
Ein weiteres Rascheln bleibt aus, aber trotzdem drehe ich mich ab und zu sicherheitshalber um. Keine weiteren Monster, bete ich zu den zwölf Göttinnen. Nur ein einziges Mal noch brauche ich Glück.
Unbeschadet erreichen wir die Lichtung und machen einen großen Bogen um die Stelle, wo die Greifklaue unter der Erde schlummert und darauf wartet, ihr nächstes Opfer unter die Erde zu ziehen und den Saft aus ihm zu pressen.
„Greifklauen können monatelang ohne Nahrung überleben. Das ist auch der Grund, warum sie in Ruhe auf ihre Opfer warten können", beginnt Arkyn mit beruhigender Stimme zu erzählen; ich konzentriere mich auf seine Erklärungen und merke, wie sich mein rasender Herzschlag allmählich wieder beruhigt, „Sie fressen alles. Und trinken müssen sie überhaupt nicht. Sie sind ziemlich pflegeleicht könnte man sagen."
Ein schiefes Grinsen schleicht sich auf sein Gesicht und für einen Augenblick verliere ich mich darin.

SchattenmächteWo Geschichten leben. Entdecke jetzt