XXIX

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Als ich heute Morgen auf die Stufen vor dem Schloss trete, kribbelt es verheißungsvoll in meinem Bauch. Ich trage eine dunkle Hose, einen weiten, grauen Pullover und habe meine Haare extra zu einem Zopf geflochten. Aber anders als erwartet, würdigt mich Arkyn keines Blickes. Er spricht angeregt mit Rancor, nur kurz flackert sein Blick zu mir herüber, aber genauso schnell schaut er auch wieder zu dem Wächter. Als wäre der alte Rancor mit seinem blassen, faltigen Gesicht und den fehlenden Zähnen irgendwie interessanter als ich. Ein winziger Stich fährt durch mein Herz. Nicht einmal ein kleines Lächeln bekomme ich von Arkyn geschenkt. Ich lasse mir die Enttäuschung nicht anmerken, sondern gehe schnurstracks und breit grinsend auf die beiden zu. „Guten Morgen", flöte ich und reiche Arkyn den Rucksack.
„Wir wechseln uns mit dem Tragen ab?", schlage ich vor. Seine Augen treffen meine und ich kann nicht anders, als in dem dunklen Onyx zu versinken. Ich versuche mit aller Kraft, den Blick loszureißen, aber seine blasse Haut, die im Morgenlicht schimmert, und das lockige Haar, das ihm in die Stirn fällt, machen es mir nicht gerade leicht. Schlussendlich bleiben meine Augen an seinen Lippen hängen.
Die Lippen, die ich gestern zum ersten Mal geküsst habe.
Mein Herz macht einen kleinen, aufgeregten Hüpfer, doch das Quietschen des Schlüssels, als Rancor uns das Tor aufsperrt, bricht den Bann. Endlich kann ich den Blick lösen und mich auf das Wesentliche konzentrieren. Bevor ich meinen ersten Schritt auf den erdigen Waldboden setze, warte ich darauf, dass Arkyn unser tägliches Mantra aufsagt.
Auf dass wir einen Weg finden.
Aber er presst die Lippen fest aufeinander und tritt bloß mit grimmigem Gesichtsausdruck in den Wald hinein. Verdutzt folge ich ihm. Was ist heute los?

Schweigend nehmen wir unsere Mission wieder auf und all die Tage, die seit dem Unglück im Schattenwald vergangen sind, scheinen ausgelöscht worden zu sein. Ich umklammere die Karte, kritzle ein bisschen darauf herum und Arkyn hat den Kopf Richtung Kompass gesenkt. Seine Fingerknöchel treten weiß hervor, so fest hält er ihn, und alle paar Minuten höre ich seinen Kiefer gefährlich knacken.
Irgendwann halte ich es nicht mehr aus und fasse mir ein Herz. „Stimmt etwas nicht?", frage ich und versuche Blickkontakt herzustellen, aber er geht schweigend neben mir her und streckt das Kinn trotzig nach vorne, ohne mich zu beachten. „Arkyn?"
„Es ist alles in Ordnung", faucht er und ich bleibe wie angewurzelt stehen.
„Liegt es an mir?", frage ich besorgt, „Oder bist du einfach schlecht gelaunt? Jeder hat einmal einen miesen Tag, das ist doch normal. Weißt du, wenn ich schlecht gelaunt bin, lese ich immer. Nun gut, zumindest habe ich das, als ich noch Zuhause war und ..."
„Es ist alles in Ordnung. Halt einfach die Klappe, ja?!"
Ich beiße mir auf die Lippe und sage nichts mehr, aber innerlich tobt es in mir. Meine Gefühle reichen von Besorgnis bis zu Wut und Enttäuschung. Enttäuschung überwiegt allerdings.
Wir kommen an dem Felsen, unserem ersten Stützpunkt vorbei, die Zeit vergeht wie im Flug und wir steigen auch schon über den umgefallenen Baumstamm hinweg.
Stützpunkt zwei. Als wir die Lichtung betreten, überkommt mich ein ungutes Gefühl. Wie ein aufgescheuchtes Reh lasse ich meinen Blick über die Umgebung wandern; immer auf der Suche nach potenziellen Gefahren. Die zwei Bäume, an die Arkyn und ich vor wenigen Tagen noch gefesselt waren, fallen mir ins Auge und mein Herz zieht schmerzhaft in meiner Brust. Wir könnten tot sein.
„Wollen wir die Stelle, an der die Greifklaue war, irgendwie markieren?", frage ich Arkyn. „Nicht, dass wir ihr in die Falle geraten."
Er gibt mir keine Antwort, aber hebt einen abgebrochenen Ast auf und steckt ihn in den weichen Boden; in etwa dort, wo die Greifklaue aus dem Erdreich geschossen ist und uns damit gerettet hat.
Weil ich in den letzten Tagen ja genug Zeit hatte, habe ich mich extra noch über diese seltenen Lebewesen in der Tiefe erkundigt und herausgefunden, dass sie alles und jeden packen und unter die Erde ziehen, der auf einen oberirdischen Auslösemechanismus tritt. Diese Mechanismen sind meist dicke Wurzeln und seither passe ich höllisch auf, wohin ich trete. Die Greifklauen sind zwar selten, aber wenn sie dich erst gepackt haben, hast du keine Chance mehr. Unter der Erde zerquetschen sie dich mit ihrer Klaue, die aus fünf Armen besteht. Sie pressen dich aus wie eine überreife Zitrone. Bei dem Gedanken kriecht mir eine Gänsehaut über die Arme.
„Lass uns weitergehen", meint Arkyn, als hätte er meine Gedanken erraten, und deutet mit einem Blick auf den Kompass Richtung Westen. „Da lang."
Schweigend stapfen wir weiter über den weichen Boden, die Köpfe gesenkt.
Arkyn, was ist los? Am liebsten würde ich ihn an den Schultern packen und schütteln, aber ich tue es nicht. Stattdessen halte ich die Klappe. Genauso wie er will.

SchattenmächteWo Geschichten leben. Entdecke jetzt