IV

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Bevor man seine Gabe erfährt, fühlt man sich wie ein Schatten. Der Schatten eines Baumes vielleicht, der sich über einen moosbedeckten Waldboden spannt. Man ist nur ein Abbild, eine Projektion, ein Scheinbild. Es ist richtig, dass der Schatten etwas über das wahre Aussehen erahnen lässt; genauso kann man aus der Größe des Schattenbaums die Größe des echten Baums schließen. Doch sicher sein kann man sich nie, denn erst die Gabenenthüllung zeigt, welcher Baum man ist. Und manchmal steht die Sonne ungünstig und man verschätzt sich.

Ich rieche den sauberen Geruch frischgewaschener Kleidung und einen Hauch von Kräutern, als ich meine Mutter ein letztes Mal umarme. Ich spüre ihre zarten Hände, die meine blonden Wellen durchkämmen und ganz dumpf nehme ich auch ihre beruhigenden Worte wahr. Doch als sie sich von mir löst, sehe ich ihr Gesicht nur verschwommen hinter dem dichten Tränenschleier vor meinen Augen.
Mein Vater greift nach den bebenden Schultern meiner Mutter und nimmt sie kurz in den Arm, bevor er mich etwas zur Seite zieht. Aus seinen Augen spricht die Sorge, aber wie immer geht er mit Verstand an die Sache heran.
„Clarice, hör mir jetzt ganz genau zu", beginnt er, in leichtem Flüsterton sprechend, als würde er mir ein Geheimnis anvertrauen. „Du siehst vielleicht zierlich und sanftmütig aus, aber wir beide wissen, dass du stark bist. Ich habe vollstes Vertrauen, dass dies kein Abschied für immer sein wird." Ich spüre, wie mir wieder die Tränen in die Augen schießen, aber ihm zuliebe blinzle ich sie weg.
„Keiner weiß, wie der Zustand der Gestaltenwandler im Schattenwald ist. Ich möchte, dass du dich aufs Schlimmste gefasst machst, hörst du? Lass dich nicht ablenken, bleib unscheinbar im Hintergrund und komm zurück, wenn du bereit bist. Wir werden immer auf dich warten."
Ein kleines bisschen Kampfgeist braut sich in mir auf und verschiebt die Angst für einen Moment hinter Gitter. Mehlwürmer im Gefängnis, eine interessante Vorstellung.
„Ich habe noch etwas für dich", meint mein Vater und zieht etwas aus seiner Jackentasche. Es ist ein goldenes Kettchen mit einem Steinanhänger in Olivgrün.
„Wie wunderschön", hauche ich und schließe meine Finger um den kleinen, glattgeschliffenen Stein.
„Deine Mutter und ich wollten es dir zum Geburtstag schenken. Doch jetzt soll es noch einen weiteren Zweck bekommen. Königin Charis und ich haben vereinbart, dass die Kette dein Erkennungsmerkmal sein soll", erklärt er mir, „Sobald du genügend Informationen über die Pläne der Gestaltenwandler gesammelt hast, kommst du zurück zum Tor. Die Wachen werden dich freilassen, wenn sie sich sicher sind, dass du es bist."
„Die Kette ist also mein Schlüssel aus dem Schattenwald", stelle ich fest. „Die Wachen werden mich nur herauslassen, wenn ich die Kette vorweisen kann?"
Mein Vater nickt und legt mir die Kette um den Hals. Der hübsche Stein verschwindet unter dem Ausschnitt meines Kleides und wölbt den Stoff leicht.
„Werdet ihr klarkommen?", frage ich meinen Vater und ich merke, wie auch seine Augen sich mit Tränen füllen.
„Macht euch keine Sorgen", krächze ich und hänge ein leises „Bis bald" hinten an.
Es fühlt sich duftig leicht an, mich so zu verabschieden. Als würde ich nur schnell Brot holen gehen oder in den Bücherladen.

„Bis bald", sagen meine Eltern.
Es ist ein Versprechen, das wir uns geben. Das Versprechen, dass wir uns wiedersehen werden. Und zwar bald.

In stocksteifer Haltung, die Hände im Schoß gefaltet, sitze ich auf der samtenen Bank in der Kutsche, den Blick starr nach draußen gerichtet, wo mein Leben an mir vorbeifliegt.
Ich kann nicht begreifen, dass dieser Tag für andere Menschen ganz normal ist, obwohl meine Welt gerade in sich zusammenbricht.
Das Schloss wird zu einem kleinen Punkt in der Ferne. In goldenes Mittagslicht getaucht steht es dort auf der Insel. Imposant und Schutz bietend. Bis jetzt habe ich den Ort, an dem die Königin lebt, für einen Rettungsanker gehalten, einen Zufluchtsort, ein Platz, an dem noch Normalität herrscht, ein Felsen in der Brandung.
Wir lassen auch Satied hinter uns, die Stadttore werden sofort geöffnet, als die königliche Kutsche mit rasendem Tempo die staubigen Straßen entlangprescht. Am Straßenrand stehen gaffende Leute, in der Nase bohrende Kinder, die mit offenen Mündern dem Wagen hinterherstarren. Erwachsene, die ihre Bälger an den Händen halten und aufgeregt miteinander tuscheln.
Vielleicht denken sie, dass die Königin in dem Gefährt sitzt.
Aber hier bin nur ich. Wie konnte das geschehen? Wieso musste das mir passieren? Meine Brust zieht sich schmerzhaft zusammen, ich spüre, wie meine Oberlippe zu beben beginnt.
Nicht weinen, nicht weinen, sei stark, du bist keine Ausgestoßene. Ich versuche verzweifelt, mich nicht meinen aufgewühlten Gefühlen hinzugeben.
Ich weiß, dass der Schattenwald im Nordwesten Duniyas nahe eines kleinen Fischerdorfs liegt, aber wie lange die Fahrt dauern wird, kann ich nicht sagen.
Als ich so in der Kutsche sitze, bricht die Realität über mich herein wie ein Tsunami. Ich bin nicht so abgebrüht, dass ich an meine Aufgaben als Spionin zwischen den anderen Gestaltenwandlern hätte denken können. Stattdessen sehe ich nur den Schattenwald vor meinem inneren Auge.
Als ich an meine Eltern denken muss, kann ich die Tränen nicht mehr zurückhalten. Ich rolle mich wie ein Baby auf der Bank zusammen und vergrabe mein mit Tränen benetztes Gesicht in dem weichen Stoff. Das Ruckeln des Gefährts beruhigt mich seltsamerweise.
Ich fühle mich wie ein Säugling, der in einer schützenden Krippe liegt. Mit dem Unterschied, dass ich meinem Schicksal ausgeliefert bin.

SchattenmächteWo Geschichten leben. Entdecke jetzt