XXVIII

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Nach der Versammlung liege ich im Bett und starre Löcher in die Decke.
Der Gedanke an unseren nächsten Ausflug in den Schattenwald hält mich wach und Panduks Worte dröhnen immer noch durch meinen Kopf. Ob Arkyn schon schläft? Ich erwäge den Gedanken, an seine Tür zu klopfen, aber er braucht Ruhe und das weiß ich. Trotzdem halte ich es keine Sekunde länger im Bett aus. Die Wände scheinen von allen Seiten näher zu kriechen und mich langsam zu erdrücken. Bevor ich es mir anders überlegen kann, werfe ich die Decke zurück und krieche aus dem Bett. Ich fische eine warme Hose und den dicksten Pullover, den ich finden kann, aus meiner Truhe und schlüpfe in Windeseile in die Sachen.
Dann verlasse ich das Schloss.

Sobald ich auf den Stufen vor dem Anwesen stehe, fällt die Anspannung von mir ab und ein irrsinniger Wunsch nach Freiheit überkommt mich und raubt mir beinahe den Atem. Meine Lungen füllen sich mit der frischen Nachtluft und mein Gesicht prickelt. Langsam gewöhnen sich auch meine Augen an die Dunkelheit. Ich nehme die Konturen dunkler Wolken und meterhoher Bäume in der Ferne wahr und wenn ich dem vom Mondlicht bläulich beleuchteten Kiesweg folge, kann ich beinahe bis zum Tor sehen. Die Gedenksteine ragen aus der Erde und werfen unheimliche Schatten aufs Gras, das sich vor mir ausbreitet wie ein schwarzer Schleier. Ein Blick auf die Turmuhr zeigt mir, dass es schon drei Uhr in der Früh ist. Zu früh, um aufzustehen, und zu spät, um ins Bett zu gehen. Leichte Nebelschwaden ziehen bereits auf und schlingen sich um die Gedenkstätten und meine Waden.
Sie erinnern mich an meine ersten Tage hier und meine erste Begegnung mit Arkyn. Ich habe ihn einen Lackaffen genannt und ihn für schrecklich arrogant gehalten. Zugegebenermaßen, ein bisschen Recht behielt mein erster Eindruck von ihm. Ein kleines Lächeln stiehlt sich auf meine Lippen und ich vergrabe die Fäuste in den Taschen des Pullovers. Arkyn ist wie eine Muschel, schießt es mir durch den Kopf. Schwer aufzubekommen, mit scharfen Kanten, an denen man sich die Finger blutig schneidet. Aber vielleicht ist es das wert, denn im Inneren könnte eine Perle stecken. Ein Mensch aus Fleisch und Blut, aus Sorgen und Hoffnung und vielleicht einem kleinen bisschen Liebe.
Meine Gedanken verwirren mich und drohen mich zu überwältigen, meine Knie sind weich wie Butter und ich muss mich kurz auf die feuchten Stufen setzen. Die Kälte frisst sich in meinen Körper und ich ziehe fröstelnd die Schultern hoch. Ich frage mich, ob ihm mein Vergleich mit der Muschel wohl gefallen würde und komme auf den Entschluss, dass ich keinen blassen Schimmer habe. Am liebsten würde ich ihn jetzt fragen.
Ich will, dass er neben mir sitzt, Dampfwölkchen in die kalte Luft bläst und leicht lächelt, während er in die Ferne blickt. Ich will die winzigen Grübchen sehen und wie er seine dunklen Haare aus der Stirn streicht. Und dann will ich ihm sagen, dass er ist wie eine Muschel und er wird mir sagen, dass das ein komplett idiotischer Vergleich ist und ich mich nicht zum Narren machen soll.
Plötzlich ist mir nach weinen zumute und ich erhebe mich fröstelnd vom Boden.

Im nächsten Moment habe ich mich in eine kleine, weiße Schleiereule verwandelt.
Ich breite meine Schwingen aus und erhebe mich etwas unsicher in die kühle Nachtluft. Meine Flügel tragen mich immer weiter hinauf, das Schloss unter mir schrumpft langsam und mit den scharfen Augen einer Eule überblicke ich die Ländereien. Ich merke, wie meine Kräfte auch schon wieder schwinden und lasse mich ganz intuitiv nach unten gleiten.
Ich fliege dicht an den massiven Gemäuern des Anwesens vorbei, meine Flügelspitzen berühren fast die raue Mauer. Vorbei an Fenstern hinter denen die Gestaltenwandler ruhen, vorbei an meinem Zimmer, vorbei ...
In letzter Sekunde kann ich mich im Flug halten, dann lande ich auf dem Sims vor Arkyns Fenster. Meine Krallen schaben auf dem festen Gestein, während ich mich nach vorne beuge, um zu sehen, ob er schläft; ganz vorsichtig, um nicht aus Versehen mit dem Schnabel gegen die Scheibe zu klopfen. Ich erwarte, dass er im Bett liegt, das Gesicht im Dunklen, vergraben im Kopfkissen. Aber wie immer, wenn es um ihn geht, habe ich mich getäuscht. Er sitzt am Schreibtisch, brütet über einem Notizbuch, in das er eifrig kritzelt.
Ich kann nicht sehen, ob er schreibt oder zeichnet. Vielleicht tüftelt er über unseren Karten?
In diesem Moment ist das Bedürfnis, bei ihm zu sein, so stark, dass ich der Versuchung widerstehen muss, bewusst mit dem Schnabel gegen die Fensterscheibe zu klopfen.
Stattdessen betrachte ich ihn aufmerksam, wie seine schnellen Bewegungen manchmal innehalten, um die Feder ins Tintenfass zu tauchen oder sich die dunklen Wellen aus dem Gesicht zu streichen. Er trägt noch immer das weiße Hemd wie bei der Versammlung, die Ärmel hat er hochgestrickt und die obersten Knöpfe geöffnet. Ich erhasche einen kurzen Blick auf seinen Oberkörper, der im Mondlicht blass zu leuchten scheint.
Meine Konzentration schwindet und ich kann die Gestalt der Schleiereule - mein liebster Vogel für die Verwandlung übrigens - nicht mehr lange aufrechterhalten.
Geschwind stoße ich mich vom Fenstersims ab und gleite zurück auf den Boden.
Kaum berühren meine Krallen den Boden, lasse ich die Gestalt der Eule fallen und finde mich keuchend auf den Stufen wieder. Ich richte mich auf, streiche mir die Haare aus der Stirn und atme tief durch. Aus der Ferne zwinkert mir der Mond zu.
Was willst du mir sagen? Welchen Rat hast du für mich, Mann im Mond?
Doch die blassblaue Oberfläche bleibt kühl wie immer.

SchattenmächteWo Geschichten leben. Entdecke jetzt