XXIII

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Heute Nacht träume ich von Arkyn. Wie wir gemeinsam über ein Feld irren, wir halten uns an den Händen und folgen einer Fußspur, die das feuchte Gras eindrückt.
Am Wegesrand reihen sich große, dunkle Bäume, die eine Allee bilden. Der einzige Weg führt zwischen den knorrigen Stämmen hindurch, die ihre Äste nach uns ausstrecken.
Ich halte mich dicht an Arkyn, der mir zuflüstert, auf keinen Fall die Bäume anzusehen. Doch ich kann nicht anders, mein Blick wandert nach links und ich erkenne, dass es keine Bäume sind, sondern Todträgerinnen, die mit ihren Krallen nach uns greifen.
Sie alle haben leuchtend grüne Augen.

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Arkyn und ich sitzen auf dem blasslila Diwan im Geheimraum, der unter unserem Gewicht leise knarzt. Irgendwie ist dieser Platz zu unserem gemeinsamen Ort geworden. Wir vervollständigen hier unsere Karten, planen die Ausflüge in den Schattenwald und studieren die Drei Bücher. Die unvollständige Karte vom Schattenwald liegt zwischen uns. Feine schwarze Linien mit krakeligen Beschriftungen und Kennziffern der Stützpunkte spannen sich über das raue Pergament. In der Nähe des Anwesens sind die Linien und Buchstaben dichter beieinander, aber zum Papierrand hin werden sie lockerer. Mit jeder weiteren Stunde, die wir im Schattenwald verbringen, wächst unsere Karte ein Stück und die gefährlichen Ausflüge werden zur Normalität in unserem Alltag.
Inzwischen wissen auch schon alle anderen Gestaltenwandler, dass Arkyn und ich jeden Morgen dort draußen verbringen. Am Flur nicken sie uns ehrfürchtig zu und blicken uns tuschelnd hinterher, wenn wir vorbeieilen. Auch im Speisesaal werde ich beäugt, als wäre ich eine Außerirdische. Nur Xanthio behandelt mich wie immer und auf die Bemerkung, dass ich nun ein Ratsmitglied bin, hat er bloß mit „Krass!" reagiert.
Bei zwei weiteren Expeditionen wurden Arkyn und ich noch von Todträgerinnen angegriffen, doch wir wissen bereits, was wir tun müssen und die Bestien töten. Das bedeutet aber nicht, dass wir uns deshalb sicher fühlen. Nachts, wenn dunkle Schatten über meine Zimmermauern kriechen oder sich der blasse Mond im Spiegel reflektiert, schrecke ich regelmäßig hoch. Es ist, als hätte ich innere Narben, die immer wieder aufreißen und niemals heilen werden.
Zum Glück sind die Todträgerinnen die einzigen Wesen geblieben, die begegnet sind, aber wir sind auf den Ernstfall vorbereitet und kennen das Buch Der Schattenwald und seine Lebewesen beinahe auswendig.

Für heute haben wir einen etwas längeren Ausflug in den Wald geplant. Arkyn hat bereits einen Rucksack mit zwei Feldflaschen und einem kleinen Snack, den Kwit uns zubereitet hat, eingepackt; auch wenn ich bezweifle, im Schattenwald an Essen denken zu können. Wir beide sind mit jeweils zwei Wurfmessern ausgestattet, ich trage noch ein Streichholzschächtelchen bei mir und Arkyn den Kompass, der uns die ungefähre Himmelrichtung angibt. Außerdem haben wir für alle Fälle Wattebällchen eingepackt, um uns vor den schaurigen Melodien der Todträgerinnen zu schützen.
Wir verlassen den unterirdischen Geheimraum und kriechen ungesehen aus der Truhe. Als wir durch die Eingangshalle mit ihrem Schachbrettmuster eilen, springe ich von weißer Fliese zu weißer Fliese, was Arkyn bloß mit einem genervten Seufzen quittiert.
Als wir in die frische Luft hinaustreten, ist das kurze Gefühl kindlicher Freiheit verschwunden und hat einem unangenehmen Magenkribbeln Platz gemacht.
Die Nervosität wird beinahe unerträglich, als das Quietschen des Schlüssels im Schloss ertönt. Sie frisst sich in meine Knochen und lässt mich zittern, obwohl ich keine Kälte verspüre.
„Auf dass wir einen Weg finden", sagen Arkyn und ich gleichzeitig, als wir in den Schattenwald treten. Diese letzten Worte sind unser Ritual geworden. Ein Abschiedsgruß, falls uns etwas zustoßen sollte, und gleichzeitig ein Versprechen.

Eine eisige Kälte legt sich wie ein Mantel um uns, während wir tiefer in den Wald eindringen. Ich halte die Karte in den Händen. Ein Wirrwarr aus Linien, aber ich würde den bereits erforschten Weg sogar im Schlaf finden. Mit verbundenen Augen.
Wir sind vorsichtig und aufmerksam, aber zucken nicht mehr bei jedem Knacksen im Unterholz zusammen. Einige Minuten streichen vorbei, in denen wir schweigsam über den unebenen Boden stapfen. Ich habe den Blick auf die Karte gerichtet, Arkyn abwechselnd in die Ferne und auf den Kompass. Endlich baut sich ein großer, moosbewachsener Felsen vor uns auf. Es ist unser erster Stützpunkt, wie wir sagen.
Heute ist es im Wald seltsam ruhig, nicht einmal die entfernten Schreie diverser Kreaturen sind zu vernehmen. Nur unser keuchender Atem und das Knacken der Äste unter unseren Füßen unterbrechen die Stille.
„Weiter nach links", dirigiert Arkyn mich und ich bücke mich unter einem knorrigen, schwarzen Baum hindurch, der seine Äste wie Klauen nach mir auszustrecken scheint.
„Wieso ist es heute so still?", flüstere ich; beinahe wage ich es nicht, zu atmen.
„Das habe ich mich auch schon gefragt. Vielleicht wollen die Viecher hier drin heute einmal ausschlafen", gibt er zurück und ein hysterisches Kichern rutscht mir über die Lippen, für das ich einen strengen Blick von Arkyn kassiere.
Schweigend laufen wir weiter, meine Augen gewöhnen sich an die Dunkelheit und ich versuche, mich so leise wie möglich fortzubewegen.
Wir kommen an einem umgefallenen Baum vorbei, der unseren Weg kreuzt, als wolle er uns aufhalten auch nur einen Schritt weiterzugehen. „Stützpunkt Nummer Zwei", flüstere ich leise, während wir über den Baum hinwegsteigen. Bei Arkyn sieht es sehr elegant aus, bei mir eher unbeholfen.

„Pssst", macht Arkyn plötzlich und hält schützend einen Arm vor mich. Er nickt in eine Richtung und mein Herz setzt für einen Schlag aus.
Todträgerinnen. Fünf Stück. Sie entdecken uns in dem Moment, in dem auch wir sie sehen.
„Watte in die Ohren", zischt Arkyn und ich greife in meine Jackentasche und stopfe mir die kleinen Wattekügelchen, die wir aus weiser Voraussicht dabeihaben, in die Ohren.
Die Todträgerinnen singen schon, das spüre ich, als mir eine Gänsehaut über die Arme kriecht. Die Wattebällchen verschaffen uns zusätzliche Zeit, um die Biester zu besiegen, aber ein hundertprozentiger Schutz sind sie natürlich nicht.
Vor allem weil wir heute mit fünf Todträgerinnen auf einmal zu tun haben. Sie gehen in einer undurchdringlichen Reihe auf uns zu, die Köpfe gesenkt, die Krallen ausgefahren.
Das Bild aus meinem Traum schießt mir wieder durch den Kopf und mein Herzschlag beschleunigt sich.
Nur nicht den Kopf verlieren, denke ich und checke die Lage. Hinter uns der umgefallene Baum, vor uns die Todträgerinnen, die sich uns langsam nähern. Wir sind eingekesselt und die einzige Möglichkeit ist, in die Offensive zu gehen.
Arkyn nickt mir zu und ich kämpfe gegen meinen Fluchtinstinkt an und mache ebenfalls ein paar Schritte auf sie zu. Das verwirrt sie kurz, aber sie kommen trotzdem unaufhaltsam auf uns zu. Meine Hände gleiten in meine Jackentasche, ich bekomme die Streichholzschachtel zu fassen. Arkyn tut es mir nach.
Ein Ratschen ertönt, als ich das Streichholz entzünde. Unbeirrt schleiche ich mich an die Todträgerinnen heran. Wie eine Katze, die sich ihrer Beute nähert, um im richtigen Moment nach vorne zu springen und ihr die Kehle aufzuschlitzen. Das Streichholz brennt langsam herunter, die glühende Flamme berührt schon fast meine Finger.
„Jetzt", brüllt Arkyn und es gleicht einem Wunder, dass ich ihn trotz des schaurigen Gesangs und des Ohrenschutzes hören kann.
Ich schleudere das Streichholz vor die Todträgerinnen auf den Boden, der sofort Feuer fängt.
Das Holz hier im Wald brennt wie Zunder, diese Entdeckung haben Arkyn und ich schon bei unserem ersten Ausflug in den Wald gemacht. Zur Sicherheit entzünde ich ein zweites Streichholz und werfe es über die fünf Todträgerinnen, sodass sie in einem Feuerkreis gefangen sind.
Sie schreien, winden sich, krallen sich aneinander, während die züngelnden Flammen in den Himmel aufsteigen. Es gibt einem Knall nach dem anderen. Fünf, zähle ich erleichtert. Dann sind sie alle tot. Schwarzer Nebel legt sich über uns und kriecht mir gemeinsam mit dem Geruch nach verbranntem Haar in die Nase.
Ich knie mich auf den Boden, halte Arkyns Hand und warte, bis der Nebel sich verzogen hat.
Der Rauch wird auch das Feuer ersticken.
Mein Herzschlag beruhigt sich langsam wieder, während Arkyns Finger meine streicheln.

Plötzlich zerreißt ein Schrei die Nacht. Arkyns Hand entgleitet gewaltsam meiner. Das Letzte, was ich spüre, sind seine Nägel, die über meine Hand kratzen, in der Hoffnung, dort Halt zu finden.
„Arkyn", brülle ich, taste um mich herum. „Arkyn!"
Was ist passiert? „Arkyn, verdammte Scheiße!" Meine Stimme klingt schrill und panisch.
Wieso lichtet sich der Rauch nicht? Was passiert hier gerade?
Es kommt mir vor wie Stunden, in denen ich durch den Rauch krieche, bis endlich ein paar hellere Lichtstrahlen durch das undurchdringliche Schwarz sickern.
Die Welt nimmt wieder Konturen an.
Doch Arkyn ist verschwunden.


SchattenmächteWo Geschichten leben. Entdecke jetzt