IX

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Menschen sind Gewohnheitstiere und mit jedem weiteren Tag, den ich hier verbringe, kann ich die Aussage mehr und mehr bestätigen. Mein Tag ist durchgetaktet vom Läuten der Glocken am Morgen bis zum Todmüde-ins-Bett-fallen am Abend. Das Einzige, was meine Stimmung jeden Morgen ausnahmslos verbessert, sind die Gespräche mit Xanthio. Sie lassen mich daran glauben, dass dieser Zustand nicht für die Ewigkeit halten wird. Eigentlich ist alles gut, solange ich beschäftigt bin, doch sobald ich abends im Bett liege, schweifen meine Gedanken ab. Dann fallen mir plötzlich meine Eltern ein. Am schlimmsten sind jedoch die Träume, in denen sie mich rufen und ich zu ihnen laufen will, doch meine Beine fühlen sich seltsam träge an und mit jedem Schritt, den ich in ihre Richtung mache, rücken sie in die Ferne. Auch heute Nacht bin ich schweißgebadet und schluchzend aufgewacht. In diesem Moment hätte ich alles getan, um bei ihnen zu sein.

Beim Frühstück bin ich schweigsam und löffle bloß meinen Haferbrei. Xanthio erzählt mir begeistert, dass heute Sonntag ist und somit Fleischtag. Deshalb sind die Jäger schon früh aufgebrochen, um jagen zu gehen.
„Die Jäger sind hier generell die Coolsten", schwärmt er und ich schalte meine Ohren auf Durchzug, als ein ausführlicher Redeschwall folgt. Ich will einfach nur in Ruhe nachdenken.
Nach dem Frühstück begebe ich mich auf den Weg zum Trainingsplatz, doch ich habe noch nicht einmal die Eingangshalle durchquert, als auch schon jemand meinen Namen ruft.
Es ist Rancors kratzige Stimme, das erkenne ich, ohne mich umdrehen zu müssen.
„Heute kein Training. Du siehst dir die verschiedenen Tätigkeiten an. Geh ins Krankenlager! ", schnauft er. Kurzangebunden wie immer.

Gedankenverloren stapfe ich durch das mit Raureif überzogene Gras. Inzwischen sind die Temperaturen stark abgefallen, man merkt, dass es schon Mitte November ist.
Ich bin mit veränderter Gestalt unterwegs, trage einen Schal und einen dicken Mantel. In den nächsten Tagen soll ich meine Alltagskleidung bekommen, erst gestern wurde ich dafür von einer Schneiderin vermessen.
Das Krankenlager ist ein wuchtiges Steinhaus, rechts neben dem Schloss.
Es sieht beinahe idyllisch aus, wie es da so steht. Rauch steigt aus dem Schornstein auf und ein kleiner Teich befindet sich in etwa fünfzig Metern Entfernung. Aus der Ferne erkenne ich eine Pflegerin mit kupferroten Locken, die gerade im Kräutergarten arbeitet. Sie scheint irgendwelche Blätter von einem winzigen Strauch abzupflücken, während sie eine Melodie summt. Sie dreht sich einmal im Kreis und selbst aus der Entfernung höre ich, dass ihre Stimme großartig ist.
Zögernd nähere ich mich ihr. Ich möchte sie nicht stören.

Du verwelkst wie eine blasse Blüte, während du in die Verbannung schwindest. Aber wir können nichts tun, nichts tun, als die Regeln zu befolgen.

Mein Herz setzt für einen Schlag aus, als ich erkenne, welches Lied sie singt. Mein Vater hat mir darüber erzählt. Der Komponist schrieb das Lied, als seine Tochter in den Schattenwald geschickt wurde, weil sie eine Gestaltenwandlerin war. Ich kenne nicht den ganzen Text des Liedes, aber den Refrain könnte ich im Schlaf singen. Der Sänger kritisiert in dem Lied jedoch unser System und damit auch indirekt die Königsfamilie, weshalb es verboten wurde.
Ich kann gar nichts anderes tun, als an meinen Vater und mich zu denken. Plötzlich stelle ich mir vor, wie er Zuhause an dem runden, großen Esstisch sitzt und das Lied singt. Das Lied, indem ein Mann um seine Tochter weint.
Verzweifelt schlucke ich die Tränen hinunter und nähere mich der singenden Pflegerin.

„Hallo?", frage ich vorsichtig und der Gesang verstummt.
„Hallo. Dich kenne ich doch von irgendwo", sagt die Pflegerin und kommt strahlend auf mich zu. Dass ich sie beim Trällern eines verbotenen Lieds erwischt habe, scheint ihr nicht peinlich zu sein. Aber wahrscheinlich ist es hier auch egal, korrigiere ich mich.
„Du bist Clara, stimmts? Nein ... entschuldige, Clarice, richtig?"
„Genau", sage ich bevor mir auffällt, dass ich die junge Pflegerin ja auch kenne, „Du bist doch meine Zimmernachbarin! Janae, oder? Ich dachte, dass die Pfleger auch im Krankenlager wohnen."
Sie lacht und ihre roten Locken wippen auf und ab. „Wir arbeiten meist im Schichtbetrieb und wechseln uns wöchentlich ab. Eine Woche schlafe ich im Schloss, dann wieder hier", sagt sie und deutet auf das Haus.
„Komm ruhig mit. Ich werde dir einfach zeigen, was die Aufgaben von uns Pflegern sind."
Schweigend folge ich ihr ins Haus.
Drinnen ist es beinahe unangenehm warm und die Luft ist stickig. Vor den Glasfenstern tanzen die Staubkörner und in einem Kamin prasselt ein Feuer. Wir befinden uns in einem kleinen Vorraum. Außer einer kleinen Küche und mehreren Schränken, Boxen und Regalen, in denen sich Bücher, Kisten und Decken stapeln, befindet sich hier nicht viel.
An einem wackeligen Holztisch sitzt eine andere, ältere Pflegerin, die gerade einem jungen Mann einen Verband um den Oberarm wickelt. Die grau melierten Haare hat sie locker zurückgebunden und um ihr Gesicht ist bereits leicht faltig, aber auf eine positive Art. Es lässt sie noch freundlicher wirken. An der mit Holz verkleideten Wand steht ein Bogen und ein Köcher mit Pfeilen. Der Patient muss wohl ein Jäger sein.
„Magretta, das ist Clarice. Sie wird heute ein bisschen Krankenlagerluft schnuppern. Clarice, das ist Magretta. Sie schnuppert schon Krankenlagerluft seit sie sechzehn ist", stellt Janae uns gegenseitig vor.
Ich lache und es fühlt sich an, als würde ich es das erste Mal seit einer sehr langen Zeit tun. Beinahe fühlt es sich eingerostet an.
Magretta lächelt mir herzlich zu. „Wir werden uns sicher gut verstehen, Clarice."
Janae deutet mir ihr zu folgen und wir betreten den nächsten Raum.
Dieses Zimmer ist deutlich größer. An den Wänden sind etwa zwanzig schmale Betten in Reih und Glied aufgestellt. Blasse, lange Gesichter von Kranken blicken mir entgegen und ich muss schlucken. Ich hasse es krank zu sein, aber Zuhause ist man wenigstens gut aufgehoben und wird in gewohntem Umfeld gepflegt. Aber wenn ich mir vorstelle, hier – bei den Gestaltenwandlern in komplett fremder Umgebung – krank zu werden, bekomme ich beinahe Panikzustände. Janae scheint zu merken, dass ich mich nicht wohlfühle, denn sie schiebt mich wieder aus dem Zimmer hinaus.
„Als ich das erste Mal hier war, habe ich mich auch unwohl gefühlt, das kannst du mir glauben. Aber du musst das Ganze so sehen: Ohne uns Pfleger müssten die Kranken hier viel mehr leiden", meint Janae und gewährt mir einen kurzen Blick in ein Badezimmer, das sich ebenfalls noch im Erdgeschoss befindet.
„Was macht ihr, wenn ihr eine Krankheit nicht heilen könnt? Es muss doch bestimmt auch ältere Gestaltenwandler geben, die man nicht mehr retten kann", frage ich mit belegter Stimme und folge ihr zurück in das Vorzimmer, wo Magretta gerade den jungen Jäger mit der Wunde am Arm entlässt.
„Klar", meint Janae und ich bewundere die Leichtigkeit in ihrer Stimme, „Deshalb befinden sich im Erdgeschoss – in dem Raum, den ich dir gerade gezeigt habe – die Kranken, die wir definitiv heilen können. Im ersten Stock befinden sich ältere Menschen und die, die wahrscheinlich sterben werden." Ich schlucke.
„Es ist der Kreislauf des Lebens, Clarice. Zu leben und zu sterben", meldet sich Magretta aus der Küche, wo sie mit ein paar Tassen hantiert. „Setz dich doch."
Ich sinke auf einen klapprigen Stuhl vor dem noch klapprigeren Holztisch und sehe zu, wie Magretta ein Tablett mit zwei Tassen Tee balanciert.
„Ich checke nur schnell, ob oben alles in Ordnung ist, dann bin ich wieder da", ruft uns Janae zu und erklimmt eine steile Holzleiter ins Obergeschoss, die mir erst jetzt auffällt.
„Da das hier eine Einführung in das Leben als Pflegerin sein soll, muss ich dir wohl ein bisschen über uns erzählen, oder nicht?", lacht Magretta und zwinkert mir zu. Sie wird mir immer sympathischer.
„Um Pfleger zu werden musst du stark sein, innerlich meine ich. Es ist eine anstrengende Arbeit, aber man wird gebraucht. Manchmal musst du mitten in der Nacht aufstehen, um den Patienten auf die Toilette zu helfen oder um einfach nur ihre Hand zu halten. Alle Pfleger hier haben eigentlich in ihrem früheren Leben, bevor sie hierhergekommen sind, schon etwas mit dem Helfen von Menschen zu tun gehabt", Magretta räuspert sich und ihr Gesichtsausdruck wird wehmütig, „Mein Vater war ein Heilmagier. Ich habe mir immer gewünscht, dieselbe Gabe zu besitzen. Ich weiß nicht einmal, ob er jetzt noch lebt. Ich bin ja inzwischen auch schon beinahe sechzig."
Ihre Augen werden feucht und ich fühle mich plötzlich so schlecht. Wahrscheinlich hat sie Mitleid mit mir, weil mich nun dasselbe Schicksal ereilt wie sie. Aber eigentlich gehöre ich nicht hierher, ich spioniere nur herum und haue dann wieder ab. Um der anderen Seite Informationen zu liefern. Der guten Seite, der Königin. Wer bestimmt eigentlich, wer böse und wer gut ist? Ich finde keine Antwort darauf, langsam scheinen die Grenzen zu verschwimmen.
Vorsichtig greife ich nach Magrettas Hand. Ihre Finger sind warm und stark und rau. Wir geben uns gegenseitig Halt.
Beinahe fühle ich mich verpflichtet, Magretta auch meine Geschichte mitzuteilen.
„Ich wollte immer schon im Laden meiner Mutter arbeiten", gebe ich zu, „Sie ist auch Heilmagierin und verkauft Kräuter und Medizin. Doch eigentlich hatte ich nie vor als Pflegerin zu arbeiten."
Die ältere Frau nickt wohlwissend. „Wie Recht du hast, mein Kind. Der direkte Kontakt mit Patienten ist schwerer als man denkt."

Der Rest des Tages verläuft friedlich und ich merke, dass ich mich gar nicht einmal so ungeschickt anstelle, was den Umgang mit den Kranken angeht. Magretta und Janae zeigen mir verschiedene Verbände, wie man Wunden verarztet und unterschiedlichste Kräuter, von denen ich die meisten schon aus dem Laden meiner Mutter kenne.
Und wenn Magretta mir über die Heilwirkungen erzählt, fühlt es sich fast so an, als würde meine Mutter zu mir sprechen.

Nach dem Mittagessen werde ich zu den Handwerkern geschickt, die mich allerdings nach einer Stunde wieder entlassen, weil sie wohl merken, dass ich für ihre Aufgabe definitiv nicht gemacht bin. Ich kann weder mit den Werkzeugen umgehen, noch habe ich die nötige Fingerfertigkeit und schaffe es sogar, mir mit dem Hammer auf den Finger zu hauen, als ich verzweifelt versuche, einen Nagel gerade in ein Brett zu schlagen. Xanthio, der auch Handwerker ist, versucht gar nicht sein Lachen zu unterdrücken und ich werfe ihm ein paar Todesblicke zu. „Ich hoffe, du weißt, dass ich heute noch bei den Köchen eine Schnupperstunde haben werde. Wenn du nicht sofort aufhörst mich auszulachen, werde ich das Abendessen versalzen," drohe ich und tatsächlich hält er dann den Mund.

Etwa zwei Stunden vor dem Abendessen soll ich bei den Köchen mitarbeiten. Kwit, der Chefkoch empfängt mich mit geöffneten Armen und drückt mir gleich eine weiße Schürze in die Hand und ein Haarband, mit dem ich mir die langen Wellen aus dem Gesicht binden soll.
„Kannst du kochen?", fragt er mich, während ich schmale Streifen von einem großen Stück Fleisch abschneide.
„Nicht so wirklich", geben ich zu, „Aber meine Kanna-Suppe ist vorzüglich."
Kwit lacht gurgelnd und wischt sich die fettigen Hände an seiner Schürze ab.
„Kanna-Suppe zu kochen ist ja auch ein Kinderspiel, meine Liebe. Das konnte ich schon mit sieben Jahren im Schlaf." Meine Mundwinkel verziehen sich nach oben, Kwit muss man einfach mögen.
„Nun ja, wenigstens kannst du Fleisch in Stücke schneiden. Manje kann nicht einmal das", ruft er über die lauten Brutzel-Geräusche hinweg und deutet auf einen Jungen mit kurzen, roten Haaren und einem verschmitzten Lächeln, der gerade aus einem Topf nascht.
„Manje, was fällt dir ein?", ruft Kwit entsetzt. Während Kwit den jungen Lehrling quer durch die Küche jagt und so tut als würde er ihn mit einem Kochlöffel erschlagen, verschlucke ich mich beinahe an meiner eigenen Spucke vor Lachen.

Als das Abendessen serviert wird, sitze ich zwar schon wieder an meinem Platz, trotzdem bin ich stolz, als ich sehe, wie die Gestaltenwandler gierig ihr Fleisch verschlingen.
Xanthio kostet zuerst zögerlich nur einen kleinen Bissen, als hätte er tatsächlich Angst, dass ich ihm das Essen versalzt hätte.
„Keine Sorge, ich habe dir ausnahmsweise verziehen", sage ich und grinse ihm zu.
„Wie war dein Tag so?", fragt er mich mit vollem Mund und ich rufe mir noch einmal alles in Erinnerung. Das erste Mal habe ich wirklich ein gutes Gefühl, wenn ich an heute denke.
„Gut, denke ich. Die Pfleger sind wirklich nett, es hat echt Spaß gemacht zu helfen. Meine handwerklichen Fähigkeiten halten sich aber – wie du ja mitbekommen hast – in Grenzen." Xanthio grinst. „Kannst du wenigstens kochen?", fragt er und ich schnaube gespielt beleidigt. „Du isst gerade dieses deliziöse Fleisch, das ich im Schweiße meines Angesichts zubereitet habe und fragst mich allen Ernstes, ob ich kochen kann?"
„Und was genau war deine Aufgabe in der Küche? Wahrscheinlich hast du bloß – im Schweiße deines Angesichts – die Töpfe abgewaschen", feixt er und seine Augen blitzen schelmisch.
„Was fällt dir ein?! Meine Aufgabe war weitaus anspruchsvoller. Ich musste das Fleisch in kleine Stücke schneiden und mit Salz und anderen Kräutern würzen", pruste ich, „Das verlangt nicht nur Fingerspitzengefühl, sondern auch ein gutes Auge für die genaue Dosierung der Gewürze."
Vor lauter Lachen verschluckt sich Xanthio an den bestens dosierten Gewürzen auf seinem Fleisch.

SchattenmächteWo Geschichten leben. Entdecke jetzt