VI

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Am nächsten Morgen weckt mich lautes Glockenläuten. Zuerst denke ich, dass ich noch träume, aber als ich auch noch Fußgetrappel am Gang höre, werde ich richtig munter und stehe auf.
Ich begutachte mein zerrissenes Kleid, das ich gestern achtlos über den Stuhl vor meinem Tisch geworfen habe. Der Riss befindet sich über meinem rechten Knie und ist zirka zehn Zentimeter lang. Aber ich habe keine andere Wahl, als das Kleid anzuziehen. So gut es geht, kratze ich den Dreck von dem Stoff und verdecke den Riss mit meiner Hand.
Zögernd verlasse ich mein Zimmer; unwissend, wohin ich gehen muss. Doch der Gang ist nicht menschenleer wie gestern. Einige Gestaltenwandler schlurfen in dieselbe Richtung, ihre müden Gesichter sind fahl und grau wie die Steinwände. Das Gemurmel hallt von den Mauern wider.
Ich nehme all meinen Mut zusammen und tippe einer vorbeieilenden Frau auf die Schulter. „Entschuldigung, wohin geht ihr alle?", frage ich. Kurz siehts sie mich stirnrunzelnd an, dann lacht sie schallend, sodass ihre roten Locken nur so wippen. „Bist wohl neu?" Ich nicke bloß eingeschüchtert.
„Wir gehen alle zum Frühstück. In der Früh wecken uns die Glockenschläge und dann gibt's Essen", erklärt sie mir. „Ist das dein Zimmer?", fragt sie mich und deutet auf die Tür, aus der ich gerade gekommen bin.
„Ja."
„Dann sind wir Nachbarn. Ich heiße Janae", stellt sie sich vor und schüttelt mir die Hand. Ich schätze sie auf höchstens dreißig Jahre.
„Clarice", sage ich. Wir gehen zusammen zum großen Speisesaal, der sich, wie Janae mir erklärt, im ersten Stock befindet. Ich bin erleichtert, dass ich nicht alleine dorthin finden muss, denn das Gebäude ist so verwinkelt, dass ich bestimmt schon bei der ersten Abzweigung falsch abgebogen wäre.
Der Speisesaal ist riesig, aber trotzdem nur halb so groß wie die Eingangshalle. Vier lange Tafeln nehmen den meisten Platz darin ein. Auf den Bänken sitzen die Gestaltenwandler eng zusammengedrängt wie Sardinen aus der Dose. Das Einzige, was zu hören ist, ist leises Gemurmel und das Klappern von Besteck.
„Du musst da hin", zischt Janae mir zu und deutet ans untere Ende einer der Tische.

Zögernd setze ich mich auf die Bank und starre schweigend auf meinem leeren Teller, dessen Kanten schon ganz abgeschlagen sind. Neben mir sitzt ein zirka gleichaltriger Junge, der sein Gesicht hinter seinen lockigen, blonden Haaren verbirgt. Als er merkt, dass ich ihn mustere, dreht er sich weg.
Ich versuche, den Kloß in meinem Hals hinunterzuschlucken. Plötzlich eilen einige Frauen und Männer mit Schürzen herein. In ihren Händen tragen sie Töpfe, die sie am anderen Ende des Tisches abstellen. Die Töpfe werden durchgegeben und jeder nimmt sich einen großen Schöpfer. Ich kann nicht genau erkennen, was es zu essen gibt, aber plötzlich überkommt mich die Angst, dass nicht genug für mich überbleibt.
Als der Topf schließlich vor mir steht, ist tatsächlich nur mehr wenig drinnen, aber es scheint zu reichen. Ich kratze die Reste aus dem Topf und klatsche die gräuliche Masse in meine Schüssel.
„Haferbrei", sagt der Junge zu mir, als er merkt, wie ich das schleimige Etwas auf dem Teller vor mir mustere. „Schmeckt genauso scheiße wie's aussieht", fügt er hinzu und lacht trocken.
Ich nehme den Löffel in die Hand und probiere vorsichtig einen kleinen Bissen. Tatsächlich schmeckt die Pappe gewöhnungsbedürftig. Im Mund scheint sie sich zu vermengen und ich nehme eilig einen Schluck Wasser aus dem Glas, das vor mir steht.
Aber schließlich siegt der beißende Hunger und ich esse alles auf. Tatsächlich sättigt die Pampe ziemlich und nach nur einer Schüssel bin ich voll.
Unauffällig mustere ich die anderen Gestaltenwandler. Sie sehen vollkommen normal aus; wie Menschen. Sie sprechen nicht viel und tragen alle ähnliche, graue Klamotten, die ganz hervorragend zu ihren blassen Gesichtern passen, aber ansonsten sind sie stinknormal.

Ich überlege gerade, wie ich den Jungen neben mir in ein Gespräch verwickeln könnte, als das Gemurmel im Raum schlagartig verstummt, alle Köpfe drehen sich Richtung Eingangstür. Ich folge den ehrfürchtigen Blicken der anderen. Da steht sie. Prinzessin Zinariya. Sie trägt ein enganliegendes schwarzes Kleid mit weit auseinanderlaufenden Ärmeln. Die langen schwarzen Haare fallen ihr über die Schultern wie ein seidiger Vorhang. Auf ihrem Kopf aber thront eine riesige, schwarz glitzernde Krone. Augenblicklich frage ich mich, woher sie diese edlen Kleider hat. Sie erscheint wie ein Diamant unter lauter Kieselsteinen.
Ihr imposantes Auftreten macht die anderen Gestaltenwandler nervös, das spüre ich sofort. Der Junge neben mir rutscht unruhig auf der Bank herum und das Mädchen schräg gegenüber hat den Blick gesenkt und kaut an ihren dreckigen Nägeln.
Meine Augen wandern zurück zu Zinariya und genau in diesem Moment kreuzen sich unsere Blicke. Ihr schmaler Mund verzieht sich zu einem Lächeln, doch ihr gesamtes Gesicht und ihre Augen bleiben kalt dabei. Es wirkt aufgesetzt und falsch, als hätte ihr es jemand ins Gesicht geklebt. Unbewusst ducke ich mich ein kleines bisschen zusammen.
Als ich merke, dass sie mit forschen Schritten auf mich zukommt, rutscht mir das Herz in die Hose. Habe ich etwas falsch gemacht?
„Darf ich dich bitten, mit mir zu kommen?", fragt sie mich, doch es klingt mehr wie eine Aufforderung als eine ernstgemeinte Frage. Ich nicke verunsichert und folge ihr aus dem Speisesaal. Die Blicke der anderen Gestaltenwandler bohren sich in meinen Rücken wie Dolche.

SchattenmächteWo Geschichten leben. Entdecke jetzt