Ich stehe lange vor dem Spiegel, probiere hunderte verschiedene Kleider an und drehe mich im Kreis, bis mir ein schwingender Rock nach dem anderen um die Beine fliegt.
Schließlich entscheide ich mich für ein moosgrünes Kleid mit weitem Rock samt kunstvoller Stickereien, tiefem V-Ausschnitt und Ärmeln, die aussehen wie Ranken. Natürlich ist es übertrieben, aber das hat das Leben als Gestaltenwandler so an sich. Man kann sein, wer man will, und aussehen, wie man will. Es gibt kaum Grenzen.
Als ich auf den Gang vor meinem Zimmer hinaustrete und den Weg Richtung Speisesaal einschlage, erklingen in der Ferne bereits zarte Musik und Gelächter. Mein Herz wird ganz weit, bei dem Klang der melodischen Töne und in Gedanken stelle ich mir bereits vor, wie ich mit weit schwingendem Rock durch den Saal schwebe.
Auch das Stimmengewirr und das Klirren von Tellern wird lauter und erreicht schließlich sein Maximum, als ich den Saal betrete. Vor Staunen fällt mir beinahe die Kinnlade hinunter. Das ist nicht der eintönige Speisesaal, den ich kenne, sondern ein wahrhaftiger Festsaal. Die Tafeln stehen an den Seiten und ihre makelhaften Oberflächen wurden mit Tischtüchern verdeckt. Verschiedenste, köstlich duftende Speisen sind aufgestellt worden und das Kerzenlicht spiegelt sich in den blankpolierten Leuchtern.
„Wir haben gute Arbeit geleistet, was?", ertönt Xanthios Stimme hinter mir und ich drehe mich nickend um. Er trägt ein schlichtes Hemd aus weichem Material und eine dazu passende Hose, seine Locken sind ungebändigt wie immer und in der Hand hält er einen Teller voller Köstlichkeiten.
„Keine Ahnung, was das ist, aber es schmeckt göttlich", mampft er und schiebt sich ein Häppchen in den Mund.
Erst jetzt fällt mir auf, wie groß mein Hunger doch eigentlich ist und plötzlich ist das Magengrummeln kaum noch zu ertragen. Ich reihe mich an der Tafel an und beginne, einen Teller mit Häppchen zu füllen. Vor mir schiebt sich Frau Hakennase in einem kackbraunen Kleid vorwärts und begutachtet mit gerümpfter Nase die duftenden Leckereien.
Bis auf wenige Ausnahmen scheint die Stimmung jedoch ausschließlich positiv zu sein. Während ich am Rande des Raumes mein Abendessen vertilge, beurteilen Xanthio und ich die verschiedenen Kleider der anderen. Von schlichten Gewändern in Naturtönen bis zu auffälligen, vor Prunk strotzenden Roben ist alles dabei. Die Königin selbst entdecken wir in der Menge nicht und auch Arkyn taucht nicht auf, auch wenn ich mich dabei ertappe, nach seinem dunklen Schopf Ausschau zu halten.
Irgendwann ist mein Teller leer, Xanthio in der Menge verschwunden, um sich Nachschlag zu holen, und mein Magen so voll, dass ich befürchte, er könnte jede Sekunde platzen. Auch der Speisesaal füllt sich stetig und bald ist es kaum mehr möglich, einen Schritt zur Seite zu tun, ohne jemandem auf die Zehen zu treten.Ich drängle mich – Entschuldigungen murmelnd – Richtung Ausgang in Richtung der Musik. Als ich den Weg zur Empore geschafft habe, von wo aus die Treppe nach unten in die Eingangshalle führt, wage ich es das erste Mal, wieder durchzuatmen. Ich schüttle den Stoff meines Kleids aus und lehne mich ans Geländer, von wo ich einen fantastischen Blick über die gefüllte Halle habe, die sich unter mir erstreckt. Die Kerzen auf den Kronleuchtern wurden entzündet, eine Gruppe Gestaltenwandler spielt auf einfachen Instrumenten und Gelächter dringt zu mir herauf und vermischt sich mit den Klängen der Musik.
„Clarice, bist du das?", ertönt eine warme Stimme hinter mir und reißt mich aus meinen Gedanken. Chase steht vor mir; seine Haut strahlt dunkel im Kerzenschein und seine Zähne blitzen, als er lächelt. Es ist beinahe seltsam, ihn nicht mit Bogen in der Hand und einem Köcher voller Pfeile am Rücken im Wald anzutreffen. Wir bewegen uns auf unbekanntem Terrain.
„Hast du Lust zu tanzen?", fragt er mich und ich stimme zu. Er streckt mir seinen Arm hin, ich hake mich unter und lasse mich von ihm die blankpolierte Treppe nach unten führen.
„Ich bin nicht sonderlich gut darin", warnt er mich vor und legt seine Hand an meine Hüfte. Insgeheim stelle ich mir vor, wie es wäre, Arkyns Hand dort zu spüren. Sofort verbiete ich mir den Gedanken.
„Dann muss ich wohl führen", necke ich Chase und er grinst. Als das nächste Lied anklingt, setzen wir unsere ersten Schritte und lassen uns von den sanften Klängen über den schwarzweißen Schachbrettboden tragen. Zuerst ist Chase tatsächlich unsicher, aber wir haben bald den Dreh rausgefunden und wirbeln über die rutschigen Fliesen. Der Rock meines Kleids wallt um meine Beine, ich spüre kaum, wie meine Füße den Boden berühren, und lasse mich einfach von der Musik tragen. Ein paar andere Gestaltenwandler klatschen und als die letzten Töne des Lieds verklingen, verbeugen wir uns spielerisch.
Chases dunkle Augen strahlen, als sein Blick meinen trifft, und mein Herz rast in meiner Brust, so sehr bin ich außer Atem.
„Ich besorge uns etwas zu trinken", schlägt er vor und verschwindet auch schon im Gewusel. Jetzt stimmen die Musiker ein neues Lied an, das nicht verschiedener zu dem Vorherigen sein könnte. Die Töne sind unklar und verschwimmen ineinander, ein paar Bauern- und Handwerker-Gestaltenwandler stürmen auf die Tanzfläche und führen einen altertümlichen Tanz im Kreis auf. Es wird gelacht, geklatscht und schief mitgesungen.
Unauffällig verziehe ich mich in den Hintergrund. Mein grünschillerndes Auftreten passt nicht zu dieser Art des Festes.
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Schattenmächte
FantasyClarice fiebert ihrem sechzehnten Geburtstag seit Wochen entgegen und nun ist es endlich soweit: Sie soll erfahren, welche Gabe sie besitzt. Als sie von der Königin zur Gabenenthüllung in den Palast gebeten wird, kommt jedoch alles anders als erwart...